DAS LÖBAUER MODELL - Mäeutisch-enneagrammatische Pflegepraxis
Wohlbefinden wird inzwischen als zentrales Kriterium der Lebensqualität von Menschen mit Demenz definiert. Dies stellt eine am Gelingen orientierte Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz vor besondere Herausforderungen, da diese in der Regel nicht mehr in der Lage sind, ihre Wünsche und Bedürfnisse verbal bzw. direkt mitzuteilen. Unterschiedliche Betreuungs- und Pflegemodelle suchen diese Menschen in ihrem Personsein in den Blick zu nehmen und ihre Äußerungen zu erfassen, zu bewerten, zu interpretieren und für deren Wohlbefinden nutzbar zu machen. Das Enneagramm der Persönlichkeit bietet für diese sogenannten personenzentrierten Ansätze eine Perspektiverweiterung, wenn von der Annahme ausgegangen wird, dass die vorherrschende Leidenschaft des Musters und die damit verbundenen Wesenszüge auch bei schwerster Demenz erhalten und erkennbar bleiben. Im Rahmen des Projektes 'Löbauer Modell' gehen wir seit 2012 unter anderem der Frage nach, ob im Kontext von Pflege mittels eines verstehenden Zugangs, menschliche Begegnung in der Pflegebeziehung ermöglicht wird und dies zu einem Zugewinn an Wohlbefinden bei den Beteiligten führt. Nach intensiver Recherche haben wir uns für das Mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell entschieden, das uns nicht nur intentional, sondern auch inhaltlich am ehesten passfähig zu unserem Anliegen und zum Enneagramm der Persönlichkeit erschien.
Zum allgemeinen Verständnis ist aber zunächst die grundsätzliche Frage zu stellen, was meinen wir eigentlich damit, wenn wir von Altenpflege sprechen? Sind es die verrichtungsbezogenen Hilfestellungen für alte pflegebedürftige Menschen, wie die Hilfe beim Aufstehen oder das Essen reichen, der Verbandswechsel oder auch die Medikamentengabe? Schnell werden wir übereinkommen, dass die fachgerechte Ausführung dieser und vieler anderer verrichtungsbezogenen Hilfeleistungen, unbestritten eine Seite der Pflege charakterisiert. Wenn dies die alleinige Aufgabenstellung wäre, könnten wir diese Tätigkeiten aber ohne weitere Probleme der Ausführung von Pflegerobotern überantworten, diesen Tätigkeitsbereich also konsequent mechanisieren und industrialisieren und damit die Personalfrage ein für alle Mal lösen. Dass dies nicht so ist, scheint wohl der Tatsache geschuldet, dass es zu den zentralen Zielen der Pflege gehört, so etwas wie Wohlbefinden bei den Betroffenen zu fördern und zu unterstützen, da es insbesondere in der Altenpflege vordergründig nicht um Heilung, sondern um ein gutes Leben unter den gegebenen Umständen geht. Herstellen können wir Wohlbefinden von außen hingegen nicht, da jeder von uns höchst individuell Wohlbefinden erlebt und empfindet. Diese Unterschiedlichkeit ergibt sich aus der je eigenen Lebensgeschichte, der Persönlichkeit, den Wesenszügen und der Art und Weise wie ein jeder von uns mit Veränderungen und Herausforderungen umgeht. Mit dem Enneagramm der Persönlichkeit wird diese Verschiedenheit erklär- und abbildbar sowie für die Beteiligten zugänglich.
Mäeutisch-enneagrammatische Pflegepraxis meint nun nichts weniger, als diese Verschiedenheit im suchenden Reagieren in der alltäglichen Pflegebeziehung aufzuspüren und mit meiner in mir liegenden Verschiedenheit, die meine Eigenart ist, zu beantworten. Suchendes Reagieren bedeutet hierbei, dass ich mich mit meinem suchenden Blick offen halte, so dass die Verschiedenheit meines Gegenübers mich erreichen kann und nicht hinter routinierten Verfahrensabläufen, Diagnosen oder Altersklischees verschwindet. Mäeutik, auch als Geburtshilfe bezeichnet, unterstellt, dass das Erforderliche immer schon vorhanden ist und je wechselseitig in uns liegt. Eine gelingende Pflegebeziehung greift auf dieses Vorhandene zurück, so dass die technisch einwandfrei ausgeführte Pflegehandlung widerspruchsfrei zur Angst und Furcht, den Vorlieben sowie den Empfindungen und dem Erleben der jeweils Beteiligten steht. Der Zeitdruck und die Expertenstandards, denen ich als Pflegekraft unterworfen bzw. verpflichtet bin, dürfen beispielsweise nicht dazu führen, dass ich dem "Ordnungsliebenden" unverlässlich werde, dem "Beobachter" seine heilige Privatsphäre störe usw. Mäeutisch-enneagrammatische Pflegepraxis kann daher als die Gleichzeitigkeit und wechselseitige Bezogenheit fachgerecht ausgeführter Pflegehandlungen in einer wesenhaft getragenen Pflegebeziehung verstanden werden. Das Enneagramm der Persönlichkeit ermöglicht einen präziseren Zugang zum Selbst- und Fremdverstehen der je eigenen und der mir gegenüber seienden Anderheit. Der mäeutische Blick im Vorgang des suchenden Reagierens wird also wechselseitig "schärfer gestellt".
Nach dem es in den zurückliegenden Jahren interessierten Mitarbeitenden aus verschiedenen Pflegeeinrichtungen ermöglicht wurde, Einführungskurse zum Enneagramm der Persönlichkeit zu besuchen und sich im Rahmen von Reflexionstreffen hierzu auszutauschen, wurde 2015 begonnen, Schulungen zum Mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodell anzubieten. Inzwischen haben sich sachsenweit und trägerübergreifend über 20 Pflegeeinrichtungen, auch mit Blick auf die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes 2017 und die Einführung des Strukturmodells zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation, entschieden, das Mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell als sogenanntes person-zentriertes Pflegemodell einzuführen. Voraussichtlich bis zu 10 Einrichtungen werden, langfristig betrachtet, dieses Modell mit dem Enneagramm der Persönlichkeit ergänzen, welches wir in dieser Kombination und mit dem vorbeschriebenen Verständnis als 'Löbauer Modell' bezeichnen. In der Übersicht stellt es sich dann wie folgt dar:
SIS = Strukturierte Informations-Sammlung im Strukturmodell zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation und der Pflegeplanung(Basisvariante)
SIS+ = SIS + Mäeutik = Mäeutisches Pflege- und Betreuungsmodell (Dialogizität & Begegnung)
SISLM = SIS + Hermeneutik + Mäeutik = Selbst- und Fremdverstehen mittels Enneagramm der Persönlichkeit (Löbauer Modell)
Die Frage, wann eine Einrichtung davon sprechen kann, das 'Löbauer Modell' eingeführt zu haben und erfolgreich zu praktizieren, kann ausschließlich qualitativ betrachtet und beantwortet werden. Zu erkennen ist es an der Feinstofflichkeit der SIS und der Sensibilität der gewählten Formulierungen sowie entscheidend an der vorzufindenden Atmosphäre in den Einrichtungen.
Folgende Enneagrammlehrerinnen und -lehrer (DEZ) zeichnen sich für die Initiative verantwortlich:
Rainer Scholze, Geschäftsführer (Löbau)
Marita Scholze, Heimleiterin (Löbau)
Ramona Schliebitz, Heimleiterin (Friedersdorf)
Bärbel Kaminski, Heimleiterin (Löbau)
Uwe Martin Fichtmüller, Geschäftsführer (Dresden)