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Erfolgreich Führen mit dem Enneagramm

Erstveröffentlichung: Zeitschrift für das Fürsorgewesen (ZfF 2013, 193 ff.), Richard Boorberg Verlag, Stuttgart

von Christina Branka, Landkreis Gifhorn, Fachbereich Soziales

und Stephan Schroeder, Stadt Mülheim an der Ruhr, Immobilienservice

(Die Autoren haben seit vielen Jahren Leitungserfahrung in verschiedenen Verwaltungsbereichen und sind zugleich ausgebildete Enneagramm-Lehrer DEZ)

Verwaltung im Wandel

Die Arbeitssituation im Bereich der öffentlichen Verwaltung hat in den letzten Jahren eine geradezu rasante Wandlung erfahren. Zahlreiche kommunale Haushalte kämpfen bundesweit um ihre Genehmigungsfähigkeit. Diese Entwicklung geht einher mit zunehmender Ressourcenverknappung bei gleichzeitiger Aufgabenverdichtung in beinahe jedem Bereich. Das bedeutet - verkürzt ausgedrückt - ein sich stetig ausweitendes Aufgabenportfolio und Anstieg von Fallzahlen mit immer weniger Personal- und Sachmittelausstattung, begleitet von steigenden Zahlen krankheitsbedingter Langszeitausfälle, Beförderungsstaus, Stellenwiederbesetzungssperren usw.

Parallel dazu hat sich das Selbstverständnis der öffentlichen Verwaltung aus gutem Grund verändert und sich von einem weit vom Bürger entfernten hoheitlichen denkenden und handelnden, starren Behördenapparat zu einem modernen Dienstleistungs- und Serviceunternehmen gemausert. Dies erforderte ein massives Umdenken in Richtung Bürgernähe und -beteiligung, Abbau von Hürden und Berührungsängsten durch das Schaffen von diversen Anlaufstellen für Bürgeranliegen und Beschwerden und vieles mehr. Ferner mündet dieses Selbstverständnis im Rahmen von Serviceversprechen in deutlich verkürzte und garantierte Reaktionszeiten. All das geht einher mit einem sprunghaft angestiegenen Rechtfertigungsdruck gegenüber Politik und Einwohnerschaft, dem sich die Verwaltungen ausgesetzt sehen.

Dies wurde u. a. erst möglich durch die Einführung vernetzter IT-Technik, die hinsichtlich der Servicequalität, aber auch mit Blick auf die qualitative und quantitative Arbeitsbelastung der Mitarbeiter (zum leichteren Verständnis des Textes wird durchgängig die männliche Form gewählt) Fluch und Segen zugleich ist. Wer kennt nicht allein schon die Situation der zu bewältigenden Flut an E-mails auch nach kürzeren Abwesenheitszeiten, gespickt mit umfangreichen Anlagen und breit gestreuten Informationen. Dies stellt wiederum eine hohe Anforderung an die Mitarbeiter an Selbstorganisation, Fähigkeit zur Unterscheidung von Dringlichkeit und Wichtigkeit und der daraus resultierenden Belastbarkeit.

Das alles führt zu einem enorm gestiegenen Arbeitsdruck, der sich in der Folge in den Krankheitsstatistiken im Anstieg von Krankheitsbildern wie Belastungsstörungen, Burnout und Depressionen an vordersten Stellen widerspiegelt (vgl. Gesundheitsreport der Technikerkasse 2011). Hier wurde bereits im Jahr 2011 ein Anstieg von 50% innerhalb von vier Jahren verzeichnet. In Erkenntnis dessen haben viele Verwaltungen bereits durch das Auflegen verschiedenster Gesundheitsmanagements reagiert.

In diesem Zusammenhang haben sich ebenfalls Führungsrolle und -stil entsprechend weiterentwickelt. Es wurden Leitlinien zur Führung und Zusammenarbeit entwickelt, Leitbilder geformt und sinnvolle Routinen wie z. B. das jährliche Mitarbeitergespräch verpflichtend installiert. 

Anforderungen an Mitarbeiterführung in der modernen Verwaltung

Nachdem lange Zeit der kooperative Führungsstil "state of the art" war, hat sich inzwischen gezeigt, dass dieser in seiner starren Form den Leitungsanforderungen als einer der komplexesten Anforderung im Berufsleben nicht mehr ausreichend gerecht wird. Für die Führungskraft gilt, sich ausgehend von diesem kooperativen Ansatz darüber hinaus bei der Wahrnehmung der Leitungsaufgaben auf die jeweilige Situation und vor allem auf den Mitarbeiter einzustellen und den menschlichen und situativen Eigenheiten Rechnung zu tragen. Der Führungskraft kommt dahingehend eine zunehmend bedeutendere Rolle zu. Führungsphilosophische Schlagworte wie Mitarbeiterbeteiligung, Führung durch Ziele vs. enge Führung bedürfen der Berücksichtigung der jeweiligen qualitativen und quantitativen Arbeitsbelastung gleichermaßen wie der individuellen Persönlichkeit des jeweiligen Mitarbeiters.

Die Anforderung besteht im Wesentlichen darin, verstehen zu wollen

  • wie die Mitarbeiter denken, fühlen und handeln,
  • welche Umstände die Leistungsmöglichkeiten dieses konkreten Menschen fördern bzw. verschlechtern,
  • was seine bevorzugte Perspektive auf die zu erledigende Aufgabe ist,
  • wie das Aufgabenprofil mit den Stärken und Schwächen dieses Menschen zusammenpassen (Wilfried Reifarth: Wie anders ist der Andere? S. 271).

Zur Bewältigung der Führungsaufgaben stehen der Führungskraft eine Reihe von "Werkzeugen" zur Verfügung, die in unterschiedlichsten Situationen zur Anwendung kommen. Exemplarisch werden hier die Mittel der Intervention, des Feedbacks, der Konfliktvermittlung und des Mitarbeitergesprächs neben Weiteren kurz beschrieben. Diese sind zumeist schon aus dem Führungsalltag und der Fortbildung zum Thema Führung in anderen Kontexten bekannt.

  • Intervention: Intervention bedeutet, in einen Prozess einzugreifen. Der Prozess wird durch die Intervention gestoppt und bekommt eine neue Wendung. Die Führungskraft muss den Prozess wahrnehmen, die Situation und die Menschen analysieren können, einschätzen, ob und wann interveniert werden muss und schließlich wie interveniert werden muss.
  • Feedback: Gezielte Rückmeldungen dienen in Kommunikationssituationen dazu, die Selbstwahrnehmung des Feedback-Empfängers zu verbessern und sein zukünftiges Verhalten zu beeinflussen. Feedback ist in beruflichen und privaten Beziehungen ein wirksames Instrument zur Verbesserung der Kommunikation und zur Vermeidung von Missverständnissen. Durch offenes Feedback wird Verborgenes erkennbar und Beziehungen geklärt. Wünsche und Bedürfnisse, Freude und Anerkennung können ausgetauscht, aber auch Ängste und Verletzungen angesprochen werden. Dadurch entstehen Vertrautheit, Vertrauen und Nähe. In vielen Gruppen werden Gefühle unter den Tisch gekehrt. Dort entfalten sie oft eine zerstörerische Wirkung. Widersprüchliche Ziele führen erfahrungsgemäß zu Konflikten. Im offenen Feedback können Gefühle gezeigt und Beweggründe und Bedürfnisse erklärt werden. Dadurch entsteht eine Klarheit, die die Arbeitsfähigkeit verbessert und diese kann zu einer besseren Zusammenarbeit führen.
  • Mitarbeitergespräch: Im Kontext kooperativer Führungskonzepte ist das Mitarbeitergespräch zu einem wichtigen Führungsmittel geworden. Im Mitarbeitergespräch führen Vorgesetze und Mitarbeiter in einem vertraulichen und möglichst stressarmen, sorgfältig vorbereiteten Kontext einen Dialog, der ein gezieltes Feedback des einen an den anderen darstellt. Aus diesen Rückmeldungen werden - im Konsens - Entwicklungsziele verbindlich abgeleitet und dokumentiert (Wilfried Reifarth: Wie anders ist der Andere? S. 275).
  • Konfliktvermittlung: Konflikte entstehen daraus, dass Menschen einander nicht verstehen. Sie sprechen eine eigene Sprache, sie finden andere Dinge wichtig und sie haben andere Ängste und Sorgen. Konflikte sind die Nummer eins auf der Liste dessen, worunter Menschen in Beziehungen im Privatleben und am Arbeitsplatz leiden. Das bringt sie aus dem Gleichgewicht und lässt sie schlechter arbeiten - was sie buchstäblich krank macht. Konflikte haben
  • einen inhaltlichen oder sachlichen Aspekt (worum geht es)
  • einen persönlichen Aspekt (die emotionale Seite, das Erleben)
  • und manchmal auch einen ideologischen Aspekt (Kultur, Religion, Politik) ("Intervention, Feedback und Konfliktvermittlung" in Anlehnung an "Enneagramm für Dummies", S. 149 ff.).

Die Soziale Kompetenz als Schlüsselqualifikation einer Führungskraft

Um den oben geschilderten Anforderungen gerecht werden zu können, hat sich die soziale Kompetenz zu der entscheidenden Schlüsselqualifikation einer Führungskraft entwickelt. Sie ist zum stärksten Indikator für Führungserfolg geworden. Es geht dabei u. a. um die Fähigkeit, Beziehungen zu Menschen aufzubauen und zu pflegen, unliebsame Botschaften empathisch zu vermitteln und sich besser durchsetzen zu können, andererseits den Teamgeist zu pflegen und nicht alles von oben anzuordnen.

Für eine Führungskraft lässt sich soziale Kompetenz darüber definieren, dass sie bei auftauchenden Problemen in einer konkreten sozialen Situation über eine Vielfalt von Lösungsstrategien verfügt. Dazu gehören soziale Fähigkeiten, wie eine Art sozialer Diagnose und ein Repertoire an Handlungsmöglichkeiten, das nicht durch Ängste blockiert ist. Es geht auch darum, Erkenntnisse aus früheren Erfahrungen auf neue Situationen zu übertragen. Auch müssen Führungskräfte in der Lage sein, unzureichende Strategien zu erkennen und zu ändern. Die notwendige Anpassung erfolgt dabei nach außen unter Berücksichtigung der an der Situation beteiligten Menschen und ihrer Interessen und nach innen unter Berücksichtigung der eigenen Wünsche, Erwartungen und Werte.

Im Kern beschreibt die soziale Kompetenz ein angemessenes Verhältnis zwischen Selbstbehauptung und Erreichen eigener Ziele unter gleichzeitiger Beachtung der persönlichen Integrität, Erwartungen und Vorstellungen anderer an der Situation beteiligten Personen.

Eine sozial kompetente Führungskraft verfügt über ein ganzes Bündel unterschiedlicher Verhaltensweisen, um darauf reagieren und jedem Beteiligten das Gefühl zu geben, an diesem Erfolg maßgeblich mitgewirkt zu haben. Statt Teil des Problems zu sein, entscheidet sich die Führungskraft dafür, Teil der Lösung zu werden.

Sieben Kriterien für soziale Kompetenz

Die im bisherigen beschriebene soziale Kompetenz lässt sich in sieben "Unterkompetenzen" gliedern und differenziert betrachten.

  1. Einfühlungsvermögen (Empathie): Empathie beschreibt die Fähigkeit und Bereitschaft, sich in die Lage anderer Menschen, mit denen man zusammenarbeitet oder kommuniziert, hineinzuversetzen. Bei Empathie geht es um die emotionale Komponente, d. h., mögliche Gefühlssituationen anderer Menschen zu erkennen. Dies geschieht hauptsächlich durch das Erkennen nonverbaler Signale. Empathie findet ihren Ausdruck darin, dass ich mich für den anderen Menschen wirklich interessiere und zuhöre. 
  2. Die Fähigkeit und Bereitschaft zum Perspektivwechsel: Dieser Aspekt beschreibt die kognitive Fähigkeit, Dinge und Menschen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Menschen und Systeme haben unterschiedliche Werte und damit Kulturen, stehen häufig im Widerspruch zueinander und müssen von der Führung auf den Organisationszweck ausgerichtet werden. Eine gute Führungskraft ist sich dieser unterschiedlichen Werte und Kulturen bewusst, kann die einzelnen Perspektiven einnehmen und die bestmöglichen Entscheidungen für die Organisation und die Mitarbeiter treffen.
  3. Klares Rollenbewusstsein und die Fähigkeit zum Rollenwechsel: Führungskräfte müssen täglich eine Vielzahl von Rollen ausfüllen und unter einen Hut bringen. Ihre Rolle gegenüber der Verwaltungsleitung ist eine andere als gegenüber dem Mitarbeiter oder gegenüber den Bürgern. Auch kann die Rolle gegenüber einem Adressaten durchaus different sein: so wird sich eine Führungskraft einen Tag schützend vor einen Mitarbeiter stellen und ihrer Fürsorgepflicht nachkommen, einen anderen Tag genau das Gegenteil tun, nämlich Fehlverhalten eines Mitarbeiters im Zweiergespräch deutlich benennen und Konsequenzen aufzeigen. Eine erfolgreiche Führungskraft hat ein Bewusstsein für ihre jeweilige Rolle. 
  4. Lösungsorientierung und strategische Ausrichtung: Zukunftsorientierte Führungskräfte haben ein klares Bild vom guten Ausgang, wenn sie Zukunft thematisieren. Das gibt Mitarbeitern Sicherheit. Sie denken lösungs- und nicht problemorientiert. Strategisches Denken und Handeln ist die Fähigkeit, die Gegenwart vom Standpunkt der Zukunft aus zu sehen und daraus ungeahnte Möglichkeiten und Potentiale abzuleiten. 
  5. Konfliktfähigkeit, Kritikfähigkeit, Krisenfestigkeit: Nicht nur das Aushalten von Widersprüchen, sondern auch das Aushalten von Widerständen ist eine wichtige Führungsqualität. Jede Führungskraft, die sich nicht auch ein bisschen einsam fühlt, lässt Potentiale ungenutzt. Es gehört zur Rolle einer Führungskraft, die die eigene Verwaltung in eine veränderte Zukunft führen will, nicht immer uneingeschränkt Zustimmung zu genießen. Von der Führungskraft wird erwartet, dass sie auf der einen Seite angemessen, konstruktiv und fair Kritik üben kann, dass sie auf der anderen Seite aber auch offen und souverän damit umgeht, wenn sie selbst zur Zielscheibe von Kritik wird. Krisen entstehen, wenn die Verarbeitungsmechanismen nicht mehr ausreichen, den täglichen Anforderungen zu genügen. Die Anforderungen aus der Umwelt kommen schneller, als sie verarbeitet werden können. Das ist das Wesen einer Krise. Die Lösung besteht darin, die Verarbeitungsmechanismen anzupassen, nicht den Rückwärtsgang einzulegen oder den Kopf in den Sand zu stecken. Konfliktfähigkeit, Kritikfähigkeit und Krisenfestigkeit sind wichtige Eigenschaften, um in den geschilderten Situationen Führungsstärke zu beweisen. 
  6. Die Unterstützung nicht-konformer Mitglieder: Die Unterstützung nicht-konformer Mitglieder in einem Team gehört ebenfalls zu den bedeutsamen Merkmalen der sozialen Kompetenz. Es geht um die Mitarbeiter, die sich nach den geltenden Werten und Normen "unvorteilhaft" von der Gruppe unterscheiden, z. B. in dem sie als Querdenker auffallen oder vom Team zum Sündenbock abgestempelt werden. Diese Menschen zu unterstützen, kann einer negativen Gruppendynamik vorbeugen. Sie geben der Führungskraft darüber hinaus wertvolle Hinweise, was im Team nicht gut läuft und was auf Führungsebene jetzt oder in der Vergangenheit versäumt wurde.
  7. Sich und das eigene Team taktisch klug im System zu positionieren: Von Führungskräften wird gefordert, dass sie die Bereitschaft und Fähigkeit entwickeln, sich und ihr Team taktisch klug im System zu positionieren. Anders gesagt, dafür Sorge zu tragen, dass die Existenzberechtigung des Teams in der Organisation gesichert wird. Dazu braucht es wiederum verschiedene Fähigkeiten: formellen und informellen Zugang zu relevanten Informationen, Entwicklungen zu antizipieren, verbale und non-verbale Signale lesen und "politisch taktieren" zu können sowie die langfristigen Strategien immer wieder auf ihre Gegenwartstauglichkeit zu überprüfen. Bei der Positionierung der eigenen Person oder des eigenen Teams kommt es unter diesem Gesichtspunkt sozialer Kompetenz darauf an, wie Handlungsspielräume von der Führungskraft erkannt und genutzt werden ("Soziale Kompetenz" in Anlehnung an "Führen ist Charaktersache", S.29 ff.).

Soweit der kurze Überblick über die Inhalte der immer wichtiger werdenden Schlüsselqualifikation der sozialen Kompetenz.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich bedarf es auch weiterer Qualifikationen, nicht auch zuletzt einer inhaltlichen Fachkompetenz, um der Führungsrolle gerecht zu werden. Aber gerade die Fachkompetenz tritt im Zusammenhang mit den Anforderungen an die Führungsaufgabe bei den stets wachsenden Anforderungen an detailliertes Spezial- und Expertenwissen zunehmend zu Gunsten der sozialen Kompetenz in den Hintergrund. Die verkrustete Praxis, dass der "beste Sachbearbeiter" auch erster Anwärter auf die nächste vakante Leitungsstelle ist, kann bei den Anforderungen an eine moderne Führungskraft im heutigen Arbeitskontext der öffentlichen Verwaltungen nicht mehr genügen.

"Warum fallen mir bestimmte Dinge leichter? Und warum reagiere ich immer wieder in vergleichbaren Situationen wider besseren Wissens?"

Die Komplexität dieser Anforderungen kann leichter bewältigt werden, wenn sich die Führungskraft zunächst über ihre eigenen Neigungen, Vorlieben, Schwächen und Stärken im Klaren ist. In einem zweiten Schritt wäre diese Klarheit in Bezug auf die eigenen Mitarbeiter und die übrigen relevanten Akteure von unschätzbarem Nutzen.

Das ist leicht gesagt. Die entscheidende Frage ist jedoch: Wie kann sich die Führungskraft eben darüber klar werden? Oder anders ausgedrückt: Ich kenne mich als selbstreflektierte Führungskraft und glaube um meine Stärken und Schwächen zu wissen. Meist weiß ich aber nicht, warum mir bestimmte Dinge leicht und andere schwerer fallen, warum ich mich in bestimmten Situationen wohl fühle und in anderen immer wieder gleichartig und - wider besseren Wissens - rückblickend falsch reagiert habe. 

Gibt es eine Unterstützung in Form einer erklärenden Orientierung , eine Art "Landkarte meines Verhaltens"?

An dieser Stelle kommt die Idee des Enneagramms als Persönlichkeitsmodell ins Spiel.

Was ist das Enneagramm?

Das Enneagramm ist ein Persönlichkeitsmodell, das die Unterschiede zwischen Menschen in den Bereichen des Denkens, Fühlens und Handelns sowie die zugrundeliegende Motivation beschreibt. Als Persönlichkeitsmodell gibt das Enneagramm eine schlüssige und nachprüfbare Erklärung, meiner Handlungsweisen, Reaktionen und immer wiederkehrenden Fallen und blinden Flecken, die ich zwar bisher schon kannte und gespürt habe, aber eben keine Erklärung dafür fand. Ich kann mich mit dem Enneagramm kennenlernen, (wie ich wirklich bin und schon immer war).

Gleiches gilt im zweiten Schritt für meine Mitmenschen. Es ist nicht nur ein ganz anderes Verständnis, sondern ein wirkliches Verstehen Anderer möglich. Dabei geht das Enneagramm von neun verschiedenen Persönlichkeitsmustern aus. Es beschränkt sich aber nicht nur auf eine bloße Beschreibung dieser Muster. Vielmehr liefert es auch schlüssige, durch eigenes Erleben nachvollziehbare Erklärungen über Hintergründe und Zusammenhänge der individuell unterschiedlichen Denkweisen, Handlungsweisen und Gefühlslagen. In diesen Erkenntnissen liegen Möglichkeiten, sich innerhalb seines eigenen Musters weiter zu entwickeln.

Gerade als Führungskraft ist es unerlässlich, sich über sich selbst im Klaren zu sein: Was ist meine Motivation? Was verursache ich bei anderen? Wo will ich hin? Das gleiche gilt für mein berufliches Umfeld, die Menschen die ich führe und die, von denen ich geführt werde.

Ein genaueres Verständnis meiner selbst und der Menschen, die mich im beruflichen Alltag umgeben, lässt Führung besser gelingen und damit beruflichen Erfolg und Zufriedenheit wachsen.

Die neun Persönlichkeitsmuster des Enneagramms

Beginnen wir also die Betrachtung der Führungsrolle durch die Brille der enneagrammatischen Idee in Form einer kurzen Beschreibung der neun Muster. Für eine erste Orientierung wählen wir drei Aspekte aus: Worauf richtet sich die Wahrnehmung eines Menschen dieses Musters automatisch aus? Was sind beispielhafte Stärken und Schwächen in Bezug auf Führung? Wir sind uns bewusst, dass unsere Auswahl die tatsächlich vorhandene Komplexität sehr stark reduziert. Insofern können und sollen die nachfolgenden Kurzbeschreibungen nur einer ersten Orientierung dienen.

  1. Prinzipienorientierung - Der gewissenhafte Perfektionist. Im Fokus der Wahrnehmung: Um jeden Preis alles richtig machen, niemals die Selbstkontrolle verlieren. Führungsstärke: Führt mit klaren Anweisungen und konsequenten Prinzipien. Hat meist den Ruf als strenge, aber faire Führungskraft. Achtet auf lückenlose Pflichtenhefte und klare Stellenbeschreibungen. Führungsschwäche: Pedanterie und unverhältnismäßige Strenge in Detailfragen. Neigt zu Bürokratisierung und zu großer Kontroll- und Regelungsdichte. Zwingt Mitarbeiter in ein Pflichtkorsett, das zu wenig Luft zum Atmen lässt. "Es ist nicht einfach, perfekt zu sein, aber irgendeiner muss es ja schließlich tun"(unbekannt).
  2. Beziehungsorientierung - Der wohlmeinende Helfer. Im Fokus der Wahrnehmung: Die Bedürfnisse und Nöte anderer, das Zwischenmenschliche. Führungsstärke: Fürsorglichkeit, Herzlichkeit, hilft bei privaten Problemen. Gute Sensoren für Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit. Gezielte Potentialentwicklung bei den Mitarbeitern. Führungsschwäche: Aufdringlichkeit, Vermischen von Privatem und Dienstlichem. Emotionalisiert Debatten, statt sie zu versachlichen. Schafft Abhängigkeiten und verhindert so die Übernahme von Verantwortung. "Mancher ertrinkt lieber, als dass er um Hilfe ruft (Wilhelm Busch)".
  3. Wettbewerbsorientierung - der dynamische Erfolgsmensch. Im Fokus der Wahrnehmung: Was braucht es hier, um gut anzukommen? Führungsstärke: Ehrgeizige Ziele und sichtbarer Erfolg motivieren die Mitarbeiter. Fordert hohes Tempo und hohe Leistungen, belohnt diese aber auch. Guter Taktiker, sichert den Vorsprung vor der Konkurrenz. Führungsschwäche: Themen wie Sinn, Ethik und Nachhaltigkeit werden oft ausgeblendet. Agiert opportunistisch und riskiert damit die Loyalität der Mitarbeiter. Das Primat der Leistung wirkt auf die Mitarbeiter unmenschlich. "Erfolg hört nur auf Applaus. Für alles andere ist er taub (Elias Canetti)".
  4. Gefühlsorientierung - Der anspruchsvolle Ästhet. Im Fokus der Wahrnehmung: Das, was fehlt (oder verloren gegangen ist), um wirklich glücklich zu sein. Führungsstärke: Verfolgt Ziele und Mission mit Leidenschaft. Inspiriert durch persönliche Zuwendung dazu, exzellente Arbeit zu leisten. Führt dahin, dass Mitarbeiter Bedeutung und Sinn in ihrer Arbeit sehen. Führungsschwäche: Neigt zu großer Emotionalität und extremen Gefühlsschwankungen. Ist zu sehr auf sich und das Individuelle fokussiert. Können Opfer ihres rigiden Anspruchsdenken werden. "Melancholie ist das Vergnügen an der Traurigkeit (Victor Hugo)".
  5. Gedankenorientierung - Der stille Beobachter. Im Fokus der Wahrnehmung: Meine Zeit, meinen Raum, meine Energie sichern und unabhängig bleiben. Führungsstärke: Kommuniziert klar, präzise, knapp. Straffes Organisationswesen, guter Haushälter, meidet alles Unnötige. Dirigiert aus der Distanz mit viel Weitblick und strategischem Kalkül. Führungsschwäche: Zurückhaltung und geringe menschliche Nähe verunsichert die Mitarbeiter. Geringe Überzeugungskraft, weil Motive/Gründe nicht erläutert werden. Behandelt Menschen wie Schachbrettfiguren, wirkt geizig. "Denken ist eine Befriedigung, die sich im Kopf abspielt (Gabriele Wohmann)".
  6. Problemorientierung - Der loyale Skeptiker. Im Fokus der Wahrnehmung: Alles was schiefgehen könnte, und wie sich dies verhindern ließe. Führungsstärke: Leistet Beistand bei der Bewältigung von Problemen und Krisen. Gehlt Problemen auf den Grund und verfügt über einen langen Atem. Hat immer den sicheren Fortbestand des Teams im Blick. Führungsschwäche: Neigt zu Einbildungen und sieht Probleme, wo keine sind. Hält am Schwierigen zu lange fest und lässt eine klare Linie vermissen. Macht sich zum Anwalt von vermeintlich Schwächeren, um "Gerechtigkeit" herzustellen. "Ein Pessimist ist ein ausgelernter Optimist (Franz Josef Strauß)".
  7. Genussorientierung - Der lebensfrohe Optimist. Im Fokus der Wahrnehmung: Alles, was Spaß macht im Leben, das Neue und Unbekannte. Führungsstärke: Motiviert und begeistert, lässt Freiraum für eigenverantwortliches Handeln. Regt Innovationen an und lässt unorthodoxe Wege zu. Praktiziert einen kollegialen Führungsstil ohne hierachische Rituale. Führungsschwäche: Redet Probleme schön und lenkt sich und andere vom Wesentlichen ab. Fängt viele Dinge euphorisch an und lässt sie unfertig liegen. Der kumpelhafte Stil verleitet zu Respektlosigkeit und schafft Irritationen. "Für den Optimisten ist das Leben kein Problem, sondern bereits die Lösung (Marcel Pagnol)".
  8. Machtorientierung - Der willensstarke Kämpfer. Im Fokus der Wahrnehmung: Macht, Einfluss und Kontrolle ausüben, um unabhängig zu bleiben. Führungsstärke: Führt mit starker Hand, sorgt für eine klare Linie. Handelt entschlossen, auch wenn er sich und anderen wehtut. Stellt sich nach außen schützend vor seine Leute. Führungsschwäche: Ist zu dominant und verhindert dadurch Eigeninitiative und -verantwortung. Ist rücksichtslos gegen sich und andere, geht über Leichen. Wehrt Kritik ab, auch wenn sie sachlich berechtigt ist. Sinnt auf Rache. "Lieber im Stehen sterben als auf Knien überleben (Jacques Santer)". 
  9. Konsensorientierung - Der friedvolle Vermittler. Im Fokus der Wahrnehmung: Das Verbindende, das Gemeinsame, das "Sowohl-als-auch". Führungsstärke: Fairness, führt an der langen Leine und lässt Freiräume. Sorgfalt in der Meinungsabwägung, jeder wird gehört. Tut viel für ein harmonisches Betriebsklima, in dem sich alle wohlfühlen. Führungsschwäche: Ist gefährdert, sich die Zügel aus der Hand nehmen zu lassen. Verpasst oft den richtigen Zeitpunkt für entschlossenes Handeln. Kehrt Probleme mit großer Ausdauer unter den Teppich. "'Es gibt mehr Leute, die kapitulieren, als solche, die scheitern (Hendry Ford)"("Die neun Persönlichkeitsmuster des Enneagramms" in Anlehnung an "Führen ist Charaktersache", S. 55ff.

Es gilt also gilt also zunächst, sich innerhalb der Lehre des Enneagramms auf die Suche nach dem eigenen Muster zu begeben. Voraussetzung hierfür ist ein Grundwissen über die neun Muster und die Zusammenhänge und Dynamiken, die sich dahinter verbergen. Hier ist eine Unterstützung der Suchbewegung durch einen vertrauten Menschen als Spiegel des eigenen Verhaltens von größtem Vorteil. Ferner setzt dies die Bereitschaft der Führungskraft voraus, sich selbstreflexiv und ehrlich mit sich selbst und seiner eigenen Persönlichkeit vor dem Hintergrund der Lehre des Enneagramms auseinander zu setzen. Dieser Weg ist gewiss alles andere als bequem, aber in jedem Fall mehr als lohnenswert, sowohl im Hinblick auf die eigene Persönlichkeitsentwicklung, als auch die Führungsaufgabe.

"Jeder Vorgesetzte ist (...) gut beraten, stets die Wirkung seines Verhaltens zu bedenken und diese Wirkung bewusst zu steuern, um negative Folgen nicht nur zu vermeiden, sondern den Mitarbeiter für sich zu gewinnen (Wolf / Draft: Leiten und Führen in der öffentlichen Verwaltung, S. 76)".

Ist sich die Führungskraft über ihr Muster, mithin ihrer Stärken, Schwächen und Motivationen sowie der dahinterliegenden Zusammenhänge bewusst, gilt es in einem nächsten Schritt, ihre Mitarbeiter besser verstehen zu können und sich der Wirkung ihres eigenen Verhaltens auf diese im Klaren zu sein.

Welche Führungskraft kennt nicht die Situationen, in denen es bei gleichbleibendem Verhalten allen Mitarbeitern gegenüber zu völlig unterschiedlichen Reaktionen oder Rückmeldungen kommt. Dies geschieht im Kontext aller menschlichen Begegnungen, und so auch in hohem Maße beim Führen und Leiten. Häufig steht die Führungskraft dem staunend gegenüber, handelt sie doch in bester Absicht nach den bekannten Führungsstrategien im Hinblick auf Klarheit im Führungsstil, Berechenbarkeit und Konsequenz im eigenen Handeln und Auftreten.

Für dieses Phänomen im Führungsalltag nachfolgend zwei Beispiele:

  1. Einer Abteilungsleiterin ist es wichtig, dass ihre Mitarbeiter selbständig arbeiten. Für sie selbst ist dies ein erstrebenswerter Zustand und sie geht automatisch davon aus, dass die Mitarbeiter das auch attraktiv finden. (Fälschlicherweise rechnet sie von sich selbst auf andere hoch!). Im Rahmen des Mitarbeitergespräches beschwert sich ein Mitarbeiter bei der Führungskraft, dass er sich im Arbeitsalltag allein gelassen fühlt und sich mehr Anleitung wünscht. Ein anderer Mitarbeiter teilt mit, dass es ihm in der Abteilung gut gefällt, weil er an der ?langen Leine? arbeiten kann und das Gefühl hat, das die Führungskraft ihm vertraut.
  2. Eine Führungskraft hält die Pflege der Beziehungsebene für wesentlich und demzufolge kommuniziert sie ausgiebig mit ihren Mitarbeitern. Einige Mitarbeiter sind sehr offen und gehen gern auf die Gesprächswünsche des Chefs ein. Andere Mitarbeiter dagegen reagieren mit Ungeduld und haben das Gefühl, dass ihnen Zeit gestohlen wird.

Ausgehend von den eingangs beschriebenen Phänomen (gleichbleibendes Verhalten der Führungskraft und unterschiedliche Reaktionen darauf) wird deutlich, dass es im Führungsalltag absolut notwendig ist, ausgehend von den Facetten der eigenen Persönlichkeit, differenziert und individuell - modern ausgedrückt: passgenau - auf die Mitarbeiter einzugehen. Nun ein alltagstaugliches Beispiel zur Verdeutlichung der neunfachen Unterschiedlichkeit der Wirkung und Wahrnehmung von Stilmitteln im Führungsalltag: der Umgang mit Teambesprechungen und Protokollen (zur Erinnerung: das Enneagramm geht von neun unterschiedlichen Mustern aus). 

Obwohl Teambesprechungen regelmäßig und verlässlich stattfinden, gibt es Mitarbeiter, die diese als Belastung empfinden und bei jedem Ausfall geradezu sichtbar aufatmen, andere hatten sich darauf gefreut und sind enttäuscht, wiederum anderen scheint es relativ egal zu sein. Ist es Stil der Führungskraft, Besprechungen verbindlich durchzuführen, zu gestalten und ebenso entsprechend protokollieren zu lassen, kann dies ebenfalls auf unterschiedlichste Weise wahrgenommen werden. Im Folgenden soll dies anhand der Muster des Enneagramms in Kurzform beschrieben werden. Hierbei ist zu beachten, dass es sich - verglichen mit der Komplexität des Themas - um eine eher oberflächliche Darstellung handelt, die nur Kernaspekte aus der Wahrnehmung der Führungskraft beleuchtet (dies allerdings mit einem Augenzwinkern).

  1. Mitarbeiter 1 legt Wert auf ein verbindliches Protokoll, das in Form und Inhalt bestenfalls immer in gleicher Struktur und perfekt formuliert sein muss. Es soll schließlich zur Orientierung dienen und stellt einen Teil der Arbeitsgrundlage dar.
  2. Mitarbeiter 2 sieht das ganz anders. Besprechungen dienen nicht dazu, die Orientierung und Ausrichtung bei der Aufgabenwahrnehmung zu bedienen, sondern sind eine prima Gelegenheit, mal mit den anderen Mitarbeitern des Teams zusammenzukommen und sich auszutauschen. Daher ist es ok, wenn jemand (bestenfalls und gern jemand anderes) Protokoll schreibt, wirklich nötig ist es aber nicht. Sollte ein anderer Mitarbeiter aber Schwierigkeiten dabei haben, übernimmt er das gern für ihn. Dafür schuldet dieser dann aber den ausdrücklichen Dank!
  3. Mitarbeiter 3 nutzt die Besprechung eher dazu, um über seine eigenen aktuellen Projekte zu berichten und freut sich, wenn sich das im Protokoll wiederfindet, damit die anderen auch darüber informiert sind.
  4. Bei Mitarbeiter 4 scheint die Haltung zu Besprechung und Protokoll eher von der momentanen Stimmung abhängig zu sein als von dem damit verbundenen Grundgedanken oder dem jeweiligen Thema.
  5. Mitarbeiter 5 hingegen beobachtet innerhalb von Besprechungen eher das Geschehen, seine Protokolle zeichnen sich aber durch klare Struktur und eine ausgeprägte Sachlichkeit aus.
  6. Für Mitarbeiter 6 dienen Protokolle vor allem als Nachweis und Beweis für das Besprochene. Hier passiert es dann schon mal, dass der Führungskraft nach längerer Zeit ein Protokoll vorgelegt wird mit dem Hinweis, dass eine grade vereinbarte Vorgehensweise den damaligen Absprachen widerspricht.
  7. Mitarbeiter 7 mag gerade diese Verbindlichkeit in Protokollen nicht, es wirkt, als würde sie ihn einengen. Besprechungen hingegen machen ihm so lange Spaß, wie die eigenen Themen betroffen sind, ist dies nicht der Fall, scheint sichtbare Langeweile einzutreten. 
  8. Mitarbeiter 8 ist geradezu ein Verfechter von Klarheit, Knappheit, Verbindlichkeit. Er mag schnörkellose, deutlich formulierte Protokolle. Notfalls schreibt er sie auch selbst, denn eigentlich ist er der Meinung, dass diese Aufgabe anderen zufallen sollte. In Besprechungen gibt er gern die Richtung vor und vermischt hierbei schon einmal die Rollen zwischen Besprechungsleitung und Wortbeitrag.
  9. Bei Mitarbeiter 9 hat die Führungskraft dann wiederum gar kein Gefühl dafür, wie er zu welcher Form von Besprechungen steht, irgendwie scheint für ihn alles okay zu sein. Man muss ihn allerdings gelegentlich daran erinnern, das Protokoll vor der nächsten Besprechung zu fertigen.

"Wie anders ist der Andere?" (Wilfried Reifarth: Wie anders ist der Andere? (Buchtitel)

Bei alldem zeigt sich, wie unterschiedlich Mitarbeiter zu den verschiedenen Themen und Situationen stehen und damit umgehen. Hinzu kommt, dass sich natürlich auch das Leitungsverständnis der Führungskraft und die Art und Weise ihres Führungshandelns unterschiedlich auf die jeweiligen Mitarbeiter auswirken.

All das kennt jede reflektierte und an Mitarbeitern interessierte Führungskraft aus ihrem beruflichen Alltag, sie stellt also in der Regel eine Unterschiedlichkeit fest. Trotzdem verbleibt es immer wieder bei der selbstverständlichen und scheinbar natürlichen Umgehensweise, von sich selbst auf Andere hochzurechnen. Mit anderen Worten: eigene Sichtweisen, Gefühle, Motivationslagen und Antriebsfedern bei anderen zu vermuten oder diese gar zu unterstellen. Daher ist schon die Erkenntnis, dass Menschen eben nicht gleich denken, fühlen und handeln, ein absoluter Gewinn. Das gilt erst recht, wenn dieses Bewusstsein im Alltag präsent ist. 

Das Enneagramm als Persönlichkeitsmodell bietet hier aber noch einmal deutlich mehr. Die Idee geht nicht nur von der Anderheit des Anderen aus, sondern sie beschreibt präzise die unterschiedlichen Aspekte der verschiedenen Muster bis in die Tiefe der Persönlichkeit. Insofern stellt sie nicht nur klar, dass Menschen eben unterschiedlich denken, handeln und fühlen, sondern gibt darüber hinaus auch die Antwort auf die Frage, wie anders der Andere denkt, fühlt und handelt. So wird es möglich, sein Gegenüber nicht nur viel besser, sondern überhaupt zu verstehen und nachvollziehen zu können, was das Verhalten der Führungskraft bei ihm auslöst. Gleiches gilt auch für alle leitungsrelevanten Werkzeuge wie z. B. Interventionen, Feedback, Konfliktvermittlung, Mitarbeitergespräche, wenn sie im Sinne der Enneagramm-Idee angewandt werden.

Mit dem Wissen, dass und ggf. wie anders der Andere "tickt", eröffnet sich somit das Tor zu wirklichem Verstehen, Toleranz und Mitgefühl im ursprünglichen Sinne. Viele Führungskräfte haben auch ohne die Idee des Enneagramms die positive Erfahrung machen können, dass eine für die Mitarbeiter spür- und sichtbare Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Führungsaufgabe zu einem deutlich höheren Vertrauen im beruflichen Kontext und so zu einem angenehmen, gesunden und zugleich leistungsorientierten Arbeitsklima führt.

Es ergibt sich quasi von selbst, dass sich die Mitarbeiter tatsächlich gemeint und erkannt fühlen, wenn sie sehen und spüren, dass sich die Führungskraft mit ihren Persönlichkeiten und ihren Eigenheiten auseinandersetzt, so dass der Vertrauensertrag noch ungleich höher ist und schlussendlich alle als Gewinner hervorgehen.

Zugleich wird der Beweis angetreten, dass sich gestiegene Anforderungen, Arbeitsverdichtung und Leistungsdruck einerseits und menschliches bzw. menschenwürdiges Führen und Leiten andererseits nicht gegenseitig ausschließen.

Voraussetzung ist - wie nun schon mehrfach beschrieben - dass sich die Führungskraft zunächst mit sich und dann mit seinen Mitarbeitern intensiv im Sinne der Lehre des Enneagramms auseinandersetzt. Es zeigt sich hier wieder einmal, dass man - wie zumeist auch in den übrigen Lebensbereichen - nicht an sich selbst vorbei kommt, sondern sich im Gegenteil eher selbst im Wege steht.

 Vision

Für die Zukunft wäre es wünschenswert, die neunfache Unterschiedlichkeit der Mitarbeiterschaft in allen Belangen zu berücksichtigen. Menschen haben in allen Lebensbereichen unterschiedliche Vorlieben, Stärken und Abneigungen. Das gilt insbesondere deshalb für den Arbeitsprozess, weil wir einen großen Teil unserer Lebenszeit in diesem Kontext verbringen. Es ist daher alle Mühe wert, für jeden Mitarbeiter und für sich selbst das passende Aufgabenprofil zu finden. In der günstigsten Konstellation würden sich durch Freude bei der Aufgabenerledigung die Krankheitsausfälle verringern und die Arbeitsergebnisse verbessern. Auch hier wäre die Lehre des Enneagramms ein absolut hilfreiches und einträgliches Instrument, um eine Passgenauigkeit von Mitarbeiter und Aufgabenfeld zu gewährleisten. Dieses ist allerdings nur im Dialog zu erreichen.

Das Enneagramm als Persönlichkeitsmodell für die Menschenführung ist ein sehr komplexes Thema und kann in diesem Artikel nicht abschließend dargestellt werden. Insofern ist es umso erfreulicher zu sehen, dass auch im Bereich der öffentlichen Verwaltung das Thema Enneagramm im Zusammenhang mit der Leitungsverantwortung zunehmend seinen berechtigten Platz findet. So wurden entsprechende Fortbildungen (Führen und Leiten in sozialen Berufen) bereits über Jahre beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, Berlin ("Enneagrammatisch bewusstes Führen und Leiten") und seit längerem beim Studieninstitut Niedersachsen ("Leichter Führen mit dem Enneagramm") angeboten.

Literaturhinweise

  1. Wilfried Reifarth: Das Enneagramm, Idee, Dynamik, Dimensionen. Berlin 2008, 2. Aufl.
  2. Wilfried Reifarth : Wie anders ist der Andere? Enneagrammatische Einsichten. Berlin 2010. 2. Aufl.
  3. Jeanette van Stijn: Enneagramm für Dummies. Weinheim 2011, 1. Aufl.
  4. Ulf Tödter/ Jürgen Werner: Erfolgsfaktor Menschenkenntnis. Berlin, 2006, 1. Aufl.
  5. Ulf Tödter / Martin Salzwedel: Führen ist Charaktersache. Berlin, 2008, 1. Aufl.
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