www.deutsches-enneagramm-zentrum.de / 4: Erfahrungen / 4.2: Ennea-Muster ZWEI > Sich erfassen, aber sich nicht mit sich befassen
.

Sich erfassen, aber sich nicht mit sich befassen

Vor einigen Jahren besuchte ich ein Seminar des Deutschen Vereins zum Thema "Die helfende Beziehung". Wenige Wochen später würde ich meinen 40. Geburtstag feiern. Meine Kinder waren alt genug, dass ich mich ohne großen organisatorischen Aufwand für eine Woche aus dem Familienalltag lösen konnte - und ich hatte das Gefühl, wirklich eine Fortbildung nötig zu haben, denn ich fühlte mich erschöpft und ausgebrannt.

Im Rahmen dieser Fortbildung begegnete mir das Enneagramm zum zweiten Mal (ich hatte viele Jahre vorher schon ein Buch darüber gelesen und überhaupt nicht "Feuer gefangen") und ich erfuhr, dass ich ein Mensch des Musters ZWEI bin. Am Schluss des Seminars reimte ich in meiner Auswertung:

Bin ich zum Schluss nun mal ganz ehrlich,
ich fühlt' mich bislang unentbehrlich,
'ne Powerfrau, die sehr belastbar
und die Motive: unantastbar!

In diesem Vierzeiler verbirgt sich die damalige Tragweite der Erkenntnis meines Ennea-Musters und es ist mustertypische Strategie, dass das Erschrecken und die Scham über diese Erkenntnis mit Humor leichter zu ertragen sind. Mir eröffnete sich ein anderer Blick auf meine Motive und dieser Blickwinkel war nicht nur neu und ungewohnt, er war ein beschämender Schreck.

Ich war eingebunden in viele persönliche, familiäre, berufliche und gesellschaftliche Verbindlichkeiten. Das erlebte ich zu diesem Zeitpunkt meines Lebens in manchen Bereichen als erfüllend, in anderen aber auch als Belastung und zeitweise als Überforderung. Dass mich dieses Unentbehrlich-Sein auch mit Stolz erfüllte, konnte ich mir nur schwer eingestehen. Ich hatte Erfahrung mit Supervision und Lehranalyse und es gehörte untrennbar zu meinem beruflichen Selbstverständnis, meine Person und mein Handeln immer wieder zu reflektieren. Im Ergebnis hatte ich meine Motive bislang wirklich für "unantastbar" gehalten, sie waren in meinem inneren Erleben selbstlos.

Die Auseinandersetzung mit Hochmut und Stolz als vorherrschender Leidenschaft und Triebfeder meines Lebens warf ein gänzlich anderes Licht darauf: Mein hoher persönlicher Einsatz hatte meine "Unentbehrlichkeit" immer wieder sicher gestellt und ich hatte, so selbstlos ich mich auch fühlen wollte, immer den Lohn für meine Mühen erhalten, indem Menschen mir zu Dankbarkeit und Anerkennung verpflichtet waren. (Widerstrebend musste ich mir eingestehen, dass ich sehr ungehalten werden kann, wenn die "verdiente" Anerkennung ausbleibt.)

Bei aller Unsicherheit und Abwehr, die diese Seminarwoche in mir auslöste, verspürte ich auch so etwas wie Erleichterung. In meinem tiefsten Innern hatte ich seit längerem die Ahnung, dass meine "Rechnung nicht aufgeht". Ich bekam viel Anerkennung, ich machte meine Arbeit gut und führte ein glückliches Leben. Trotzdem war ich nicht wirklich zufrieden und suchte nach einem tieferen Sinn. Das Enneagramm verhieß mir ein Hinweisschild auf den Weg persönlicher Entwicklung.

Nachdem die Saat gelegt war, befasste ich mich weiter mit dem Enneagramm, zunächst hauptsächlich mit den vielen Aspekten meines eigenen Musters, parallel aber auch mit dem, was mir andere Menschen über ihr Muster mitteilten. Ich fand, dass andere Muster nicht "so schlimm" waren wie meines. Manche erschienen mir fast verlockend, andere fremd. In mir herrschte bezüglich meines Musters hauptsächlich Verwirrung: Was soll ich mit den Erkenntnissen über mich anfangen? Hochmut ist eine so peinliche Eigenschaft, ich werde nie wieder hochmütig sein. Ich gewöhne mir das einfach ab!

(Solange ich denken kann, habe ich einen "Vertrag" mit Gott: "Ich mache hier auf Erden keinen Bogen um jede Art von Not und Elend und Du lässt dafür die Finger von meinen Liebsten und möglichst auch von mir." Dieser Vertrag war mir nicht bewusst und ist mir leider auch nicht aus eigener Einsicht bewusst geworden, sondern durch den Hinweis eines befreundeten Kollegen. Eine Erkenntnis, für die ich mich zutiefst geschämt, sie aber schnell wieder zu den Akten gelegt habe. Die von mir aufgemachte Rechnung ist in meinem bisherigen Leben aufgegangen, ehrlicher ausgedrückt: Gott hat sich an den Vertrag gehalten, den ich mit ihm "geschlossen" habe.)

In der Rückschau erscheint es mir, als habe sich mein Hochmut gerade in der Anfangszeit meiner Beschäftigung mit dem Enneagramm auf eine neue, perfide Weise gezeigt: Ich glaubte ernsthaft, mich neu "erschaffen" zu können. Die als "antastbar" erkannten Motive wollte ich eliminieren, um mich wieder edel, hilfreich und gut fühlen zu können.

Es war und ist ein schwieriger Prozess für mich, mich mit den Strategien und Mechanismen meines Egos auseinander zu setzen. Martin Buber nennt es unseren "Verstecksapparat", der uns subjektiv ein Gefühl scheinbarer Sicherheit vermittelt:

Um der Verantwortung für das gelebte Leben zu entgehen, wird das Dasein zu einem Verstecksapparat ausgebaut. (...) indem er sich vor ihm [Gott] zu verstecken sucht, versteckt er sich vor sich selber.

Die für mich schwierigste Aufgabe meiner persönlichen Entwicklungsarbeit ist, mich selbst wirklich in den Blick zu nehmen. Es fällt mir leicht, auf andere Menschen zu schauen, ihre Bedürfnisse und Ressourcen zu erkennen, ihre Schwächen gelassen zu sehen und ihnen wohlwollend zu begegnen. Der Blick auf mich selbst ist getrübt und schweift gern von unliebsamen Aspekten ab. Unliebsame Aspekte sind alle Regungen, Eigenschaften und Motive, die nicht in mein Selbstbild des "guten Menschen" passen, mir aber sehr vertraut sind:

  • Etwas für mich haben wollen, ohne es "verdient" zu haben,
  • wütend auf andere Menschen sein,
  • ungerecht, unloyal oder verächtlich sein,
  • mich schwach, bedürftig, hilflos und unzulänglich fühlen,
  • nicht für einen anderen Menschen da sein wollen, der mich braucht,
  • bei allem, was mir wichtig ist, bestimmend sein wollen,
  • Neid,
  • berechnend und egoistisch sein,
  • mich ungefragt und unerwünscht in das Leben anderer Menschen einmischen,
  • um der Anerkennung willen meine eigenen Grenzen missachten,
  • meine Hilfsbereitschaft und meinen Großmut schnell versiegen zu sehen, wenn sie nicht gewürdigt werden.

Der wirkliche Blick auf mich erfordert es, alle Facetten meines Wesens in den Blick zu nehmen, mich ihnen zu stellen und die Verantwortung für sie, für mich und für mein Leben zu übernehmen. Es war und ist eine mühsame Erkenntnis für mich, dass mein Entwicklungsweg keine fortwährende "Erfolgsstory" ist, sondern ein Weg mit Höhen, Tiefen, Um- und Irrwegen.

Ich habe Zeit mit mir selbst und die wertschätzende Begleitung anderer Menschen gebraucht, um diese Erkenntnis reifen zu lassen. Als Mensch des Musters ZWEI ist es dabei für mich von besonderer Wichtigkeit, dass ich bei keinem anderen Menschen, sondern nur in mir selbst die Antworten auf meine Fragen finde. Aber die Antworten in mir selbst finde ich nur in der Begegnung mit anderen Menschen.

Zwischenmenschliche Beziehungen sind für mich als Mensch des Musters ZWEI der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens. Es ist mir ein tiefes Bedürfnis, eine Sehnsucht, mich mit ihnen und damit mit dem Leben und der Welt zu verbinden. Das Enneagramm hat mir ermöglicht, das zu verstehen und die Dialogphilosophie Martin Bubers hat mir ein Koordinatensystem für dieses Bestreben gegeben. Es ist für mich eine fortwährende Entwicklungsaufgabe achtsam zu sein, ob ich andere Menschen vereinnahme, statt einer wirklichen Begegnung Raum zu lassen. Auch hier findet sich die schon beschriebene Bezogenheit: Ich kann nur für mich lernen, achtsam zu sein, aber ich kann es nicht ohne ein Du.

Ich fühlte mich durch die Beschäftigung mit dem Enneagramm aufgerufen, mich als den Menschen zu entdecken und kennen zu lernen, der ich wirklich bin. Einerseits beängstigte mich die Vorstellung, mich ehrlich mit meinen Schattenseiten und blinden Flecken zu beschäftigen, andererseits verlockte mich die Idee, weniger Energien bei der Politur meines Wunschbildes zu verschwenden (von dem ich ohnehin nach vierzig Jahren gelebten Lebens wusste, dass es fleckig bleiben würde).

Für mich bedeutete dies, mich mit Stolz und Hochmut als meinen vorherrschenden Leidenschaften auseinander zu setzen, sie nicht "abschaffen" und "nachlassen" zu wollen, sondern die Verantwortung dafür zu übernehmen, wie ich diese Energien lebe. Bei Buber heißt es:

Worauf es ankommt, ist, dass er die Kraft eben dieses Gefühls, eben dieses Antriebs von dem Zufälligen auf das Notwendige und von dem Relativen auf das Absolute richte.

Ich verstehe diese Passage so: Es liegt in meiner Verantwortung, dass der Hochmut in meinem Leben nicht nach Belieben das Steuer führt, es liegt in meiner Verantwortung, die positive und konstruktive Kraft des Hochmutes auf das Notwendige und das zu Tuende zu lenken.

Bis heute ist die Aussöhnung mit meiner Leidenschaft brüchig. Einerseits schätze ich die Kraft, die mir Stolz und Hochmut verleihen: Ich traue mich, scheinbar aussichtlose Unterfangen anzupacken; ich möchte Unmögliches möglich machen und oft genug gelingt das auch; ich kann enorme Energien mobilisieren, wenn ich etwas schaffen möchte; Menschen vertrauen mir auch in schwierigen Lebenslagen; ich kann Menschen wirklich erreichen. Andererseits erlebe ich immer wieder, dass der Hochmut mit mir durchgeht: Ich mische mich in Dinge ein, die mich nichts angehen; ich überschreite die Grenzen anderer Menschen, weil ich glaube, besser zu wissen, was für sie gut ist als sie selbst; ich führe mich auf, als sei ich "die rechte Hand Gottes" und nichts würde auf der Welt funktionieren, wenn ich nicht meine Finger im Spiel habe; ich bin ungeduldig, weil ich glaube, es besser zu wissen oder "Sonderrechte" zu haben. Anders als früher bemühe ich mich heute, die Verantwortung für dieses Verhalten zu übernehmen und es nicht wortreich zu erklären und zu entschuldigen.

Bei meiner Auseinandersetzung mit dem Enneagramm beschäftigte mich auch die Frage, was das, was ich hier über mich erfuhr, für meinen Umgang mit anderen Menschen und für mein berufliches Selbstverständnis bedeutet. Mein sich verändernder Umgang mit mir selbst ließ mich auch meine Mitmenschen anders wahrnehmen. Bislang war ich mir ja sicher gewesen, mich ausgesprochen gut in andere Menschen einfühlen und schnell herausfinden zu können, was ihnen "fehlt" und ihnen diese Hilfe möglichst zukommen zu lassen. Auch wenn diese Einschätzung - oberflächlich betrachtet - oft richtig war: Sie war auch Ausdruck meines Hochmuts.

Bereits relativ kurze Zeit, nachdem ich das Enneagramm kennen lernte, hatte ich das sichere Gefühl, dass es für mich der richtige Weg ist, meine Erkenntnisse des Enneagramms in meine berufliche Arbeit zu integrieren. Insbesondere zwei Erlebnisse vertieften diese Gewissheit.

Zum einen hatte ich die Gelegenheit, an einer längerfristigen Fortbildung zur Anwendung des Enneagramms in der Beratungsarbeit teilzunehmen. Ich erinnere mich gut an die mit Staunen verbundene Erkenntnis, die ich in der persönlichen Auswertung zu dieser Fortbildung formulierte. Ich war zutiefst beeindruckt davon, dass es neben meinem eigenen Lebensentwurf noch acht andere gab, die ebenso "rund" und tauglich waren. Ich hatte mir schon vorher die Ressourcenorientierung auf meine pädagogischen Fahnen geschrieben, aber jetzt begriff ich, dass ich auch das meinem Muster entsprechend getan hatte. In mir wohnte die Überzeugung, sicher zu wissen, was gut für einen anderen Menschen ist und das manchmal besser als dieser selbst. Nun erkannte ich, dass ich von mir selbst auf andere hochgerechnet hatte, dass es neunfach Gutes gibt und dass manches, was ich selbstverständlich für gut und hilfreich hielt, von anderen Menschen ganz anders empfunden wurde. Im Extremfall wertete ich etwas als Defizit, was von dem anderen Menschen als unverzichtbarer Teil seiner Persönlichkeit empfunden wurde. (So empfand ich z.B. das Bestreben der Menschen des Musters EINS, für Ordnung zu sorgen, oft als Rechthaberei. Ich konnte nur Unverständnis dafür aufbringen, dass sie mit meinem Ratschlag, die Dinge lockerer zu sehen, nichts anfangen konnten, sie dies vielmehr in Rage brachte und sie meinen guten Willen hinter diesem Rat überhaupt nicht zu würdigen wussten).

Das Enneagramm half mir, die Ohren offen zu halten und zuzuhören, wie andere Menschen "ticken" und was ihnen wirklich hilft. In meinem Bestreben, mit einem anderen Menschen gemeinsam dessen Muster zu entdecken, lernte ich, dass niemandem etwas wirklich fehlt, sondern dass es nur darum geht herauszufinden, in welchen mustertypischen Fallen und Verstrickungen ein Mensch gefangen ist, wie der persönliche, musterspezifische Entwicklungsweg sein kann und was diesen möglicherweise verstellt.

Diese Erkenntnis hat mich vorsichtig - und ich möchte fast sagen: demütig - gemacht, auch wenn es mir nicht immer gelingt, meine zwischenmenschlichen Beziehungen entsprechend zu leben. Ich habe einen tiefen Respekt vor anderen Menschen und deren Lebensentwürfen bekommen, den ich vorher nicht hatte, auch wenn es mich schmerzt das so zuzugeben, denn es gehört zu meinem guten Selbstbild, respektvoll und achtsam mit anderen Menschen zu sein.

Das zweite einschneidende Erlebnis war das Verfassen der Abschlussarbeit während meiner Weiterbildung zur Enneagrammlehrerin. Ich hatte begonnen, das Enneagramm insbesondere in die Beratungsarbeit mit Jugendlichen einfließen zu lassen. Ich war erstaunt, wie sehr die jungen Menschen sich bereits durch die Grundannahmen des Enneagramms angesprochen fühlten. Oft waren sie vorbehaltlos bereit, über sich und ihre Motive zu berichten, sich zu erforschen und kennen zu lernen. (Besonders dann, wenn sie nicht das Gefühl hatten, dass ich es als Erwachsene "sowieso schon weiß" bzw. es nicht die "richtige" Einstellung zum Leben und seinen Anforderungen gibt.) Immer wieder stellten wir staunend fest, wie verschieden - und manchmal auch ähnlich - unsere Sicht des Lebens ist und dass unterschiedliche Sichtweisen ihre Berechtigung haben und sie erst das Leben bunt und "rund" machen.

Gemeinsam mit drei anderen Ausbildungsteilnehmern befassten wir uns in unserer Abschlussarbeit mit dem Thema, wie das Enneagramm in der Erziehung und Beratung junger Menschen eingesetzt werden kann. Auf unsere Bitte hin schrieben Jugendliche "Entwicklungsbriefe", in denen sie beschrieben, was für sie Erwachsenwerden bedeutet und was ihre (mustertypischen) Entwicklungsaufgaben sind und sie suchten Musikstücke aus, die ihre persönliche Lebensenergie repräsentieren. Ich war von der Präzision, der Wahrhaftigkeit und der Intensität, mit der sie ihr Ennea-Muster beschrieben, überwältigt. Alle Jugendlichen beschrieben viel mehr und viel tiefer, was ihr Muster ausmacht, als sie dies jemals von uns gelernt oder erfahren haben konnten. Für mich war dies der Beweis, dass die Idee des Enneagramms wahr ist. Die immer wieder geäußerte Sorge, das Enneagramm stecke Menschen in Schubladen, zerstreute sich hier endgültig. Wenn Menschen ohnehin so gut über sich Bescheid wissen wie diese jungen Menschen, dann gibt das Enneagramm uns höchstens eine Sprache dafür, auszudrücken, in welcher Schublade wir stecken.

Diese Erfahrung vertiefte sich noch durch das Erleben der Reaktion meiner Ausbildungskollegen auf die Briefe ihrer jungen Mustergeschwister, denn ich spürte deutlich, dass sie durch die Briefe ebenso im positiven Sinne erschüttert waren wie ich. Wir baten unsere Ausbildungskollegen, den jungen Menschen ihres eigenen Ennea-Musters zu antworten. In ihren Antwortbriefen traten sie in einen intensiven Dialog mit den jungen Menschen. Hier begegneten sich Menschen, die sich nicht kannten auf existenzielle Weise. Beim Lesen dieser Antwortbriefe erlebten die Jugendlichen es durchweg als Ermutigung, dass ihre Erkenntnisse, Nöte und Entwicklungsaufgaben auch von "so alten Menschen" verstanden und geteilt werden. Immer wieder haben mir Jugendliche gesagt, dass es für sie neu ist, ihre Situation als etwas Normales, Menschliches und zum Leben Gehörendes zu betrachten und nicht als pubertäre Krise, die es zu überwinden gilt.

Meine Haltung anderen Menschen gegenüber und damit auch mein berufliches Selbstverständnis haben sich durch diese Erfahrungen wesentlich verändert. Wenn wir die Aussagen des Enneagramms ernst nehmen, kann Erziehung nicht mehr bedeuten, dahingehend Einfluss auf Kinder und Jugendliche zu nehmen, dass wir sie unseren Vorstellungen (woher auch immer wir diese nehmen und wie sorgfältig wir diese auch reflektiert haben mögen) entsprechend formen. Erziehung kann dann nur bedeuten zu akzeptieren, dass es neun verschiedene Lebensenergien gibt. Es gilt, gemeinsam mit den jungen Menschen herauszufinden, welche Kräfte in ihrem Leben entscheidend sind, diese zu akzeptieren, konstruktiv zu nutzen und Entwicklungshemmnisse zu überwinden. Wie ich selbst muss auch der junge Mensch letztlich für sich entscheiden, Verantwortung für sich, sein Leben, seine Stärken und Unzulänglichkeiten und seinen persönlichen Weg der Lebensbewältigung zu übernehmen. Was wir tun können ist, auf diesem Weg unsere Erfahrung, Kraft und Hoffnung mit ihm zu teilen.

Für die persönliche Antwort auf die Frage, welche Rolle ich als Pädagogin in diesem Entwicklungsprozess habe bzw. haben möchte, sind die Gedanken Martin Bubers wegweisend und verheißungsvoll, im pädagogischen Alltag sind sie aber vor allem eine riesige Herausforderung: Ich habe im Beratungsprozess mit jungen Menschen keinen Anspruch auf Gleichberechtigung, zu unterschiedlich sind die Welten, in denen wir leben und die Ansprüche, die an uns gestellt werden. Aber menschliche Gleichwertigkeit - und damit die unumstößliche Gleichwertigkeit verschiedener Lebensentwürfe - sind für mich Grundpfeiler einer Beziehung, in der Begegnung möglich sein kann. Meine Aufgabe und Rolle sehe ich darin, mich als Mit-Mensch vorbehaltlos zur Verfügung zu stellen. Dabei brauche ich auf keine meiner bisher bewährten pädagogischen Methoden zu verzichten, aber sie unterliegen in ihrer Anwendung einer neunfachen Brechung. Es geht bei ihrem Einsatz nicht mehr meine definierten pädagogischen Ziele und Vorstellungen, sondern die mit dem jungen Menschen vereinbarten Entwicklungsaufgaben und -ziele. So kann ich zur zuverlässigen Begleiterin eines Entwicklungsweges werden.

In der Vermittlung des Enneagramms an andere pädagogisch Tätige muss dieser Umstand meines Erachtens immer eine besondere Berücksichtigung finden. So verlockend die Vorstellung ist - es wird niemals eine wirkliche "Anleitung" dafür geben, wie ich als Mensch des Musters Soundso mit (jungen) Menschen des Musters Soundso umzugehen habe. Nichts und niemand kann uns aus der Verantwortung entlassen, ehrlich bezüglich unserer eigenen Motive zu sein. Diese Selbsterkenntnis ist ein lebenslanger Prozess des Respekts uns selbst und anderen Menschen gegenüber. Dies gilt für den Erwachsenen ebenso wie für den jungen Menschen. Billiger als über den Weg mühsamer Selbsterkenntnis ist Entwicklung für niemanden zu haben.

Paula

.
  • .
  • .