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Der Weg eines Menschen des Musters VIER

Mein berufliches Leben führte mich bis zum heutigen Tag (im Oktober 2007) über den Erzieherinnenberuf und Leitungsfunktionen im Kindertagesstättenbereich zur sozialen Arbeit im Allgemeinen Sozialen Dienst eines Jugendamtes ab 1992. 

Nach dem Eintauchen in die Soziale Arbeit im Jugendamt wurden viele Weiterbildungen, ein berufsbegleitendes Studium zur Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, berufsbegleitende Ausbildung zur Verwaltungswirtin und andere Fortbildungen Meilensteine auf meinem Weg. Seit einigen Jahren leite ich das Sachgebiet "Allgemeine und besondere Erziehungshilfen" im Jugendamt eines Landkreises. Die Auseinandersetzungen mit den Anforderungen dieses Arbeitsbereiches zeigten mir immer wieder Möglichkeiten und Grenzen des persönlichen Handelns in dienstlichen und privaten Kontexten auf. Eine andauernde reflexive Arbeit mit mir, eine tiefe Auseinandersetzung, folgte und hält an.

Irgendwie war ich ständig der Meinung, an Grenzen zu stoßen. Dies ging mit einem Gefühl des Stillstands und der damit verbundenen Unzufriedenheit einher und war verknüpft mit dem Eindruck, nicht verstanden zu werden und nicht genügen zu können. Ich war immer auf der Suche - aber nach was? Im beruflichen Alltag kreisten meine Gedanken oft um die Frage, was anders gemacht werden könnte, damit wir die Menschen, die wir professionell begleiten, anders und besser verstehen können. Mir fehlte eine zuverlässige Methode im Umgang mit ihnen.

Im Zuge einer Fortbildung beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge in Frankfurt zum Thema "Führen und Leiten im Sozialen Bereich" lernte ich das Enneagramm kennen. Es "sprang" mich regelrecht an. Endlich wurde mir aufgezeigt, dass es ein anderes Verständnis des persönlichen Umgangs mit sich und anderen geben kann. Beeindruckend war die Schilderung der Leiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes im Landkreis Harburg, dass sie in Form eines Kooperationsprojekts mit dem Deutschen Verein in ihrem Arbeitsteam das Enneagramm einführten und begannen, damit zu arbeiten. Meine Begeisterung fand keine Grenzen und somit steckte ich mir neue, hohe Ziele.

Langsam tastete ich mich an diese Theorie heran. Ich suchte mein Muster und welche Energie mich leitet. Auf Grund meiner Sicht der Dinge war ich der Meinung, den Menschen des Musters ZWEI zugehörig zu sein. Ich arbeitete an mir und verstrickte mich noch mehr. Meine Hypothese, ein Mensch dieses Musters zu sein, brachte mich in existentielle Nöte. Erst ein vertrauensvolles Gespräch mit einer Mitteilnehmerin an der Weiterbildung zur Enneagrammlehrerin brachte mich auf die Spur. Wie blind ich doch war! Der Knoten löste sich schnell auf und nun fühle ich mich zu Hause, als ein Mensch des Musters VIER. Somit begann eine erneute Suche nach mir selbst. Diese tiefe Auseinandersetzung gab mir ein genaues Bild meiner selbst, welches es mir endlich erlaubte, mich zu verstehen und somit auch die mich umgebenden Menschen anders, verstehender wahrzunehmen.

Auf meine Biografie zurückblickend, kann ich sagen, dass mein Leben in weitestgehend "geregelten" Bahnen verlief. In meiner Herkunftsfamilie zeigte ich mich vorwiegend angepasst, den Anforderungen genügend. So waren meine schulischen Leistungen sehr gut bis gut, ich war sportlich aktiv, kulturell aufgeschlossen und erfüllte meine Aufgaben in der Großfamilie, die eine große Gaststätte führte, immer zur Zufriedenheit. Freundschaften lebte ich kaum. Oft fehlte mir der Bezug zu Gleichaltrigen. Ich wusste nichts mit ihnen anzufangen. Sie interessierten mich kaum. Meine Ruhe fand ich im Lesen, Musik hören, auf Spaziergängen in Wiesen und Wäldern, und besonders im Umgang mit Tieren. Dort hatte ich meine eigene Welt, in der ich verstanden wurde. In ihr wurde ich so aufgenommen, wie ich war, konnte so sein wie ich mich fühlte, durfte laut selbst erdachte Lieder singen oder Geschichten erzählen, mich mit Blumen und Gräsern schmücken, tanzen oder einfach nur ruhig am Bach sitzen und dem Glucksen der Wellen zuhören.

Oft war ich in diesen Situationen getragen von Wehmut, einer Schwermut, die ich kaum zu beschreiben vermag. Doch empfand ich dies nicht als bedrohlich, sondern als für mich normal. Nur hier durfte/konnte ich sie zeigen, ohne kritisiert zu werden. Diese Traurigkeit war vergänglich, fühlte sich wie ein Auftanken von Energie an und danach konnte ich wieder andere Dinge und Situationen viel intensiver wahrnehmen. Ob es Farben, Klänge, Gespräche oder schöne Bewegungen waren: Ich schloss diese Eindrücke tief in meinem Herzen ein und wusste sofort, wovon andere Menschen sprachen und konnte wahrhaftig mitfühlen.

Es wurde in der Familie erwartet, dass ich gut mit Menschen umgehen kann; ich musste im Gaststättenbetrieb helfen. Dies war mir nicht unangenehm, erhielt ich doch von den Gästen viel Aufmerksamkeit und Achtung. Dennoch es zog mich immer in die Natur und zu den Tieren. Nur dort fühlte ich mich verstanden und aufgehoben.

Die Weichen für meine berufliche Laufbahn stellten meine damalige Klassenlehrerin und der Direktor meiner Schule. Sie waren der Meinung, dass meine besonderen Fähigkeiten im Umgang mit Kindern lägen. Nachdem ich den Lehrerberuf kategorisch ablehnte, wurde mir der Beruf der Kindergärtnerin nahe gebracht. So geschah es. Doch eigentlich hing ich an Tieren - mein Traum Tierärztin oder Gestütsfacharbeiterin zu werden, erfüllte sich nicht. Ich hingegen erfüllte die Erwartungen und ging in die Pädagogik. 

Mich begleiteten in der Folge oft Menschen, die der Meinung waren, dass mehr in mir stecke, als es die derzeit auszufüllende Stelle verlangt. So wurde mir schnell die Leitung eines Kindergartens anvertraut, später die Fachberatung in diesem Bereich. Alles kein Problem. Doch füllte es mich nicht aus. Ich war noch immer auf der Suche. Zwischenzeitlich heiratete ich und entband eine Tochter.

Es ergab sich eine Stelle im ASD eines Jugendamtes. Neue Herausforderungen reizten mich, obwohl ich mir anfangs nur schwer vorstellen konnte, diesem Anspruch zu genügen. Ich gab alles, investierte viel Zeit und Kraft in den Beruf, studierte auf eigene Kosten Sozialarbeit/Sozialpädagogik, machte meinen Abschluss und übernahm das Sachgebiet des Jugendamtes auf Anfrage und bildete mich zur Verwaltungsfachwirtin berufsbegleitend weiter. Mein hoher Anspruch, 100% für die Familie und 100% für die Arbeit usw. da zu sein zu wollen, brachten mich an meine Grenzen.

Diesen Weg begleitete ein dann fast wöchentlich auftretender Entspannungskopfschmerz, der mich für die Wochenenden handlungsunfähig machte, daneben drei Hörstürze, permanente Verspannungen und viele Erkältungen. Die Warnsignale nahm ich bis zum dritten Hörsturz nicht ernst. Erst als dieser nicht gehen wollte und sehr massiv war, ließ ich ein Umdenken zu. Von nun an kümmerte ich mich zusätzlich auch noch um mich: Radfahren, Joggen, Schwimmen, Teilnahme an kulturellen Höhepunkten mit regelmäßigen Konzert- und Theaterbesuchen waren die bevorzugten Aktivitäten.

Es gab auch Zeiten, in denen ich in der Freizeit keine anderen Menschen außerhalb der Familie mehr sehen sollte und konnte. Ich zog mich zurück. Ich hatte keine Lust mehr - so meine Wahrnehmung - die Verantwortung für alles und jeden tragen zu wollen/sollen. Das Tragen schöner Bekleidung bot mir Schutz und verbesserte meine emotionale Situation. Jedoch musste die Bekleidung anders sein als die von anderen Menschen. Dies vermittelte mir Sicherheit.

Im beruflichen Kontext ging es nach meinem Dafürhalten nicht weiter. Ich hatte den Eindruck, festgefahren zu sein - das mir anvertraute Sachgebiet nicht weiter bringen zu können - und dies aus Gründen, die sich meinem Einfluss entzogen. Auch sportliche Aktivitäten und kulturelle Ereignisse waren kein Ausgleich mehr.

Erst durch die Hilfe einer Therapeutin, die auch enneagrammatisch arbeitet, kam ich zu der Erkenntnis, dass ich selbst erheblich an dem mich Umgebenden beteiligt bin. Ich verknotete selbst das Netz, welches mich umgab. Mein Selbstbild zeigte sich mir als nicht liebenswert. Gefühle wie schlechtes Gewissen der Familie gegenüber, nicht verstanden zu werden, mein Drang nach Autonomie, welche mir in der Konsequenz auch wieder Angst machte, das Schwinden von Inseln der Ruhe - das alles nahm mir allmählich die Luft.

Es verdeutlichte mir, dass meine sehr hohen Zielstellungen, mein Anspruch an mich und andere, um Anerkennung zu erhalten, mein Kontrollbedürfnis, die Sehnsucht nach Geborgenheit und das Gefühl doch nicht verstanden zu werden, weichenstellend wirkten. Ich erkannte, dass ich nicht wegen meiner Leistung geliebt werden will, sondern als Person.

Mittlerweile muss ich nicht mehr reibungslos funktionieren, und so lebt es sich besser. Natürlich kann ich nicht aus meiner Haut. Ich spüre oft den Neid in mir, wenn andere Menschen vermeintlich bessere Ideen - z. B. beim Führen ihres Teams - haben, besondere Reisen machen und davon berichten, oder wenn sie über mehr Wissen verfügen als ich. Doch kann ich es immer besser einordnen. Wenn ich die Augen dafür öffne, was mir das Leben für wunderbare Geschenke im privaten und im beruflichen Leben gemacht hat, bin ich wieder entspannter. Endlich kann ich mit offeneren Augen, offenerem Herzen, offeneren Ohren durch die Welt gehen. Was mir nun entgegen kommt, ist das pure Leben mit all seinen Facetten, und ich vermag sie nun auch immer besser anzunehmen.

All dies hier in Kurzform Beschriebene kann ich erst durch die Kenntnis meines Ennea-Musters deutlich wahrnehmen. Natürlich arbeite ich weiter vorsichtig und achtsam mit diesem wunderbaren Instrument. Meinen Umgang mit anderen Menschen und mit mir konnte ich positiv verändern, auch wenn sich dieser Veränderungsprozess nicht immer sehr angenehm anfühlte und anfühlt. Mein Gefühl, dazuzugehören und beteiligt zu sein, beginnt zu wachsen. Ich bin Mensch wie jeder andere auch - mit Sonnen- und Schattenseiten - und hoffe, meinen Anspruch auf Besonderheit weiterhin in seine Schranken weisen zu können.

Vier persönliche Erkenntnisse möchte ich denjenigen, die sich mit der Enneagramm-Idee beschäftigen, mit auf den Weg geben:

  • Meines Erachtens ist die Energie, die jeden Menschen leitet, mit in die Wiege gelegt. Sicher tragen Erziehung oder Sozialisation allgemein zur Entwicklung der Persönlichkeit bei, doch richtungweisend ist etwas anderes.
  • Beim Umgang mit dem Enneagramm möchte ich dazu ermutigen, zu allererst mit sich zu beginnen, zu schauen, welche Energie einen antreibt, weshalb man so und nicht anders reagiert. Erst dann kann die Arbeit mit anderen Menschen wirklich gelingen.
  • Die Beschäftigung mit dem Enneagramm erfordert viel Gelassenheit und Geduld. Nichts sollte übers Knie gebrochen werden und beim Umgang damit darf nicht davon ausgegangen werden, dass andere Menschen von Anfang an in ähnlich intensiver Weise mitschwingen. Es hat alles seine Zeit.
  • Für den Prozess im Umgang mit dem Enneagramm braucht es nach meinem Verständnis immer mehrere Personen, die den Weg vertrauensvoll begleiten und die sich gegenseitig Unterstützung leisten können und leisten wollen.

Johanna

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