Rezension - Enneavision
Enneavision. Passgenaue Beratung und EntwicklungsArbeit mit dem Enneagramm
Autor: Wilfried Reifarth
Verlag: Deutscher Verein/ Lambertus
Das Buch dokumentiert ein zweijähriges Praxisexperiment mit 40 Enneagramm-Lehrenden: Das „Entwicklungslabor Enneavision" erforschte, wie eine Beratungsphilosophie unter enneagrammatischen Gesichtspunkten jeden Klienten musterspezifisch und passgenau beraten kann.
Im Groben besteht das Buch aus drei Teilen. Die theoretische Einführung fokussiert auf die enneagrammatischen Basiskenntnisse zur Enneagramm-Idee, zur Entwicklungsrichtung („Sehnsuchtsort") des Enneavisanden und der Form der inneren Haltung des Enneavisors.
Im zweiten Teil, den digitalen Seminartagen, findet eine in nahezu wörtlicher Rede (Transkription) wiedergegebene gemeinsame Suchbewegung statt. Hier bekommen die Menschen jeden Musters Raum für Selbstreflexion, Spiegelung und vor allem für die Klärung der Frage, was am Ende tatsächlich aus der eigenen Musterperspektive vom Berater gewünscht wird und – infolgedessen – die größten Entwicklungschancen bietet.
Im dritten Teil, der Essenz, erhält der Leser eine Zusammenfassung einschließlich der Reflexion zu den Ergebnissen aller neun Muster mit der Erweiterung des Zusammenhanges der Erkenntnisse zu den Überlegungen der Urväter wie G. I. Gurdjieff und Martin Buber, deren Philosophie retrospektiv die Wurzeln der Enneagramm-Idee darstellen.
Was unterscheidet dieses Buch von anderen enneagrammatischen Werken?
Es verlässt die Komfortzone der theoretischen Betrachtungen der neun Muster einschließlich der Enneagramm-Idee als solcher. Es taucht ein in eine Beratungsphilosophie, die aus der individuellen Perspektive der einzelnen Muster gemeinsam „geboren" wird. Dabei wird systematisch herausgearbeitet, welchen Umgang sich Menschen der einzelnen Muster in einer Beratungssituation wünschen, um fruchtbare Entwicklungsarbeit leisten zu können. Die Teilnehmer beschreiben aus der Motivation ihrer Vorherrschenden Leidenschaft heraus, welche Hintergründe ihre Momente des Stolperns haben, welche Überlegungen und Überzeugungen hinter der dargebotenen Verhaltensebene stecken und wo sie dabei abgeholt werden wollen.
In zweiter Ebene wird auch die Interaktion zwischen den verschiedenen oder aber auch gleichen Mustern von Berater und Zu-Beratendem deutlich. Häufig wissen wir im therapeutischem Kontext nicht, was am Ende tatsächlich hilft. Aus der bereits reflektierteren Brille der einzelnen Muster der Enneagramm-Lehrenden zu erfahren, unter welchen Voraussetzungen sie ihren inneren Widerstand in den Blick bekommen und reduzieren können, um sich der Beratung offen und veränderungsbereit hinzugeben, vermag eine solide Grundlage für nachhaltige individuelle Entwicklungsarbeit zu sein.
Wilfried Reifarth ist es – gemeinsam mit Barbara Stiels – mit dem ungewohnten Instrument der Transkription gelungen, durch die gebotene Transparenz der persönlichen Innenansichten der Einzelnen dem Berater bedingungsloses Verständnis und liebevolle Akzeptanz zu ermöglichen. Damit werden die Ich-Stärkung und das Vertrauen auf die Kraft des Gegenübers im Entwicklungsprozess zum zentralen Baustein der Beratung. Dies ist ein großer Schritt, heraus aus der asymmetrischen Gesprächsführung und der pädagogischen Grundhaltung, dessen Bedeutung die aus dem Format heraus entstandenen, bisweilen ausführlichen persönlichen Bewertungen und den Umfang der 584 Seiten verzeihen lässt.
Diesem Buch ist es gelungen, der Enneagramm-Idee einen nicht mehr wegzudenkenden praktischen Bezug zu geben und sie in den Dienst der wahrhaftigen Begegnung und Beratung zu stellen.
Dr. Tina Sasse

