Rezension zum fünften Buch
Im Klappentext deines 2019 erschienen Werkes „Das Enneagramm – Neue Einsichten und Perspektiven" ist zu lesen: „In seinem fünften Enneagrammbuch stellt der Autor tradierte Ansichten der Ennea-Theorie auf den Prüfstand und kommt zu Einsichten, die dem Verstehen und der Anwendung neue Perspektiven und Möglichkeiten eröffnen. In einer beispiellosen Weise bringt er das zutiefst menschenfreundliche und Frieden stiftende Potenzial der Ennea-Idee zum Vorschein."
Das Wichtigste an diesem Buch ist dir, dass – neben dem Anspruch, „Neues" mitzuteilen („Wohlgemerkt: keine neuen Wahrheiten, sondern, neue Perspektiven") – Einblicke in die Arbeitsweise und internen Überlegungen des Deutsches Enneagramm Zentrums (DEZ) gegeben werden. So wird der Leserin/dem Leser nachvollziehbar, wie die mitgeteilten Einsichten entstanden sind.
Dies geschieht durch einen Bericht über drei viertägige Workshops „Auf dem Weg zur Meisterschaft", in dem sich 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus drei abgeschlossenen Weiterbildungen und damit „(...) aus drei ziemlich unterschiedlichen Lernkulturen" (S. 11) zusammenfanden und ihre Erfahrungen, bezogen auf Schnittmengen von Gemeinsamkeiten, bedeutsame Unterschiede und wünschenswerte Konsequenzen reflektierten. Ziel war u.a., den Pool von Menschen zu vergrößern, die Weiterbildungen zum/zur Enneagrammlehrer/in prozessverantwortlich leiten zu können. Am Ende dieser Workshopreihe standen elf Menschen fest, denen zugetraut wurde, dieser Leitungsverantwortung gewachsen zu sein. In der danach gestarteten, neuen dreijährigen Weiterbildung zum/zur Enneagrammlehrer/in, wurden diese neben den Teilnehmerinnen und Teilnehmern und den drei Prozessverantwortlichen als eine dritte Erfahrungsebene nun ihrerseits auf ihre zukünftige Prozessverantwortung vorbereitet. Aus diesen Quellen sind die vorliegenden Einsichten und Perspektiven gespeist.
So liegt es quasi in der „Natur der Sache", dass die Prinzipien der stattgefundenen „Großgruppenprozesse" – für das DEZ das ideale Medium zum Lernen – im dritten Kapitel „Von der Agogik zur Enneagogik" erneut eine kurze Darstellung erhalten und in einem Anforderungsprofil für Prozessverantwortliche münden. Die Entstehung verschiedener anderer Ergebnisse dieser Arbeit sind in den jeweiligen Kapiteln mitbeschrieben.
Einen grundlegenden Perspektivwechsel beschreibst Du gleich zu Anfang mit einer wohlbegründeten Vorzeichen-Umkehr: Die Vorherrschende Leidenschaft – in deinem ersten Buch von dir noch mit Bezug auf Beschreibungen der Dämonen der Wüstenväter ‚unsere leidenschaftlichen Dämonen' genannt – wird „von ihrem Schwefelgeruch" befreit und als konstitutiv für unser seelisch-geistiges System betrachtet: „Wir haben erkannt, dass unsere Vorherrschende Leidenschaft für grundsätzliche Veränderungen gar nicht zur Disposition steht, sondern unser wichtigster Besitz, unser wertvollstes Kapital ist. Sie ist die Quelle unserer Lebensenergie." (S. 24)
Dieser Perspektivwechsel bewirkt einen wichtigen Schritt in Richtung einer Selbst-Aneignung: Weg von einer moralischen „Wurzelsünde", die niedergerungen werden muss, zu einer Chance, mich nicht wertend selber zu beobachten – und wenn möglich zu korrigieren. Genaueres dazu finden wir in einer Neuinterpretation der Enneagramm-Muster. Diese Sichtweise blieb in den deutschsprachigen Enneagramm-Schulen nicht ohne Widerspruch und Kritik, weil sie mancher Vorstellung von einer notwendigen Transformierung der Mustereigenschaften entgegensteht.
In Deutung des Gurdjieffschen „Gesetzes der Drei" beschreibst Du, wie die Vorherrschenden Leidenschaften wirken – und durch die Wahrnehmung der daraus folgenden Automatismen – innere Widersprüche entstehen. Du schlägst für diese Vorgänge vor, sie zu verstimmlichen und ihnen eine „Gestalt" zu geben. Diese Gestalt nennst Du Einredner, die „eher wie ein Kommentar zu allem fungieren, was wir denken, fühlen und handeln. Allerdings hat die kommentierende Instanz nicht das Ziel, uns ein neutrales, absichtsloses Feedback zu unseren inneren Prozessen zu geben, sondern sie möchte deren Ziel und Richtung (...) lenken und verändern. So entstehen Rede und Widerrede – also eine Art merkwürdiger Dialog." (S. 40) Diese Dialoge deklinierst Du durch alle Muster und zeigst durch Kommentierung und die Darstellung eines jeweiligen Heilmittels, dass Gurdjieffs Idee: „Der Mensch ist ein Sich-selbst-entwickelnder-Organismus" (S. 41) eine Chance hat, weil wir erstmals bemerken, „dass es tatsächlich eine dritte Instanz in uns gibt, die oberhalb der Gegensätze die widerstreitenden Positionen bewerten und gewichten kann." (S.41)
Von Beginn an war dir wichtig, dass wir uns damit beschäftigen, die Kenntnisse und Erkenntnisse, die das Enneagramm per se bereithält, zu untersuchen und auf unsere Art ihre Anwendbarkeit zu prüfen. So waren wir recht früh im Zweifel, ob die überlieferte Interpretation des Inner Flow in Ent- und Verwicklungsrichtung tatsächlich Sinn für uns macht. Schnell waren wir der Meinung, dass eine „Verwicklung" durchaus das Potenzial für Entwicklung enthält.
Dein Vorschlag hier heißt „Die Rumpf-Arme-Metapher". Es geht darum, beide Entwicklungslinien eines Musters (Rumpf) in den Blick zu nehmen und mit dem Blick – im Kreis an der Stelle des Musters im Enneagramm stehend – in beide „Arme" hineinzuspüren und die aufkommenden Energien wirken zu lassen. Auch hier deklinierst Du dieses neue Bild durch alle neun Muster und beschreibst die jeweils vorhandenen Potenziale der mit dem Ursprungsmuster durch die „Arme" in Verbindung stehenden Muster.
So vorbereitet durch die dargestellten Perspektivwechsel, lag ein Paradigmenwechsel in der Luft. Die Auswirkungen davon sind, dass die bereits beschriebene Aufgabe von „EntwicklungsArbeit" noch deutlicher in die Verantwortung eines jeden selbst gelegt ist. Die Folge davon war unter anderem eine auf die Enneagramm-Arbeit vorgenommene Veränderung des 12-Schritte-Programms. Dieses ist Grundlage für unser monatlich online stattfindendes Angebot des „Ennea-Meetings". Die „Rumpf-Arme-Metapher" unterlag bei unterschiedlichen Gelegenheiten immer wieder neuen Überprüfungen, die wir mit Genugtuung erlebten.
Weitere Auswirkungen finden wir in dem genannten Vorhaben, die Arbeit mit dem Enneagramm in eine Enneagramm-orientierte Beratungsform zu gießen, die Du „Enneavision" nennst. An dieser Stelle treten die eingangs beschriebenen (und im Buch noch einmal ausgeführten Prinzipien) von Großgruppenprozessen, Bubers radikales Verständnis von der „Anderheit des Anderen" und des Umgangs damit, und die von dir formulierten „Konturen einer Ethik des Enneagramms" in den Mittelpunkt der Ausführungen.
Das Frieden stiftende Potenzial unserer Arbeit skizzierst Du so: Das Enneagramm beschreibt neun „wesentliche" Wahrnehmungs- und Handlungsmuster und zeigt sowohl auf psychologischer wie auf spiritueller Ebene Dynamiken, die dem Ego zu einem transformativen Weg zu einem stärkeren Selbst verhelfen können. „Die Adaption der Zwölf Schritte der AA führt uns vor Augen, dass Entwicklung kein unmögliches Unterfangen ist. Und wie stark die Heilkraft ist, die sich aus der wahrhaftigen Begegnung mit unseren Mitmenschen ergibt." Martin Buber ermutigt uns mit seiner von seinem jüdischen Glauben geprägten Dialogphilosophie zu einer zutiefst menschenfreundlichen und sehr wirklichkeitsnahen „Vorstellung, dass in allem, was existiert, das Gute schlummert und sich nach Erlösung sehnt. Und dass diese Erlösung nur durch den Menschen geschehen kann. Die Enneagramm-Idee schafft eine sichere und begehbare Brücke zum Verständnis der Anderheit des Anderen. (...) Das Ganze gibt es aber nicht umsonst: die Brücke bleibt eine Brücke. Sie schafft kein gemeinsames Territorium, sondern eine Verbindung oberhalb des manchmal eigentlich Unvereinbaren, des Fremden, des für mich letztlich Uneinfühlbaren." (S.147)
Lieber Wilfried, deine Arbeit mit uns und unsere Arbeit mit dir hat uns in diesen Aspekten geprägt und gestärkt. Dein Buch hält uns allen vor Augen, dass und wie wir es mit der Haltung ernst meinen.
Dafür gebührt dir unser aller Dank.
Paul Glar