www.deutsches-enneagramm-zentrum.de / 4: Erfahrungen / 4.5: Ennea-Muster FÜNF > Verbundenheit als Sehnsuchtsort für Menschen des Musters FÜNF? - ein paar Gedanken
.

Verbundenheit als Sehnsuchtsort für Menschen des Musters FÜNF? - ein paar Gedanken

Holy Omniscience, Holy Transparency: Die Erkenntnis, dass Getrenntsein und Distanzierung nur als mentale Einbildung existieren, weil jedes Individuum durch die Wirkung der objektiven Gesetzmäßigkeiten in seinem Organismus eng mit dem ganzen Kosmos verbunden ist. Weil diese kosmischen Gesetze jeden Aspekt von uns beeinflussen, gibt es keine Möglichkeit, sich vor dem Kosmos zu verstecken oder sich den Folgen dieser natürlichen Prozesse zu entziehen. Wenn wir das verstehen, sind wir mit unserer Vergangenheit voll und ganz versöhnt." (Ichazo)

Natürlich ist es eine Illusion zu glauben, dass wir nicht mit dem Ganzen verbunden wären. Wir hängen „da voll drin" und sind verbunden mit und abhängig von allem. Wir aber geben uns lieber der Illusion hin, über unseren eigenen Kopf unser Leben und unser Sein kontrollieren zu können und autark zu sein. Daran ändert auch nichts, dass wir vielleicht sogar selbst wissen oder zumindest ahnen, dass das so nicht stimmen kann. Ich glaube, dass wir Menschen des Musters FÜNF tagtäglich einen sehr schlechten Deal eingehen. Wir tauschen das Gefühl des „Allesmiteinanderverbundenseins" gegen den kläglichen Versuch, mit unserem Gehirn subjektives Wissen um die Ordnung der Dinge anzuhäufen. Wir suchen nach Gesetzmäßigkeiten und Verständnis, um dem für uns allgegenwärtigen Chaos die eine oder andere kleine Vorhersagbarkeit und Sicherheit abzuringen. Wir stellen dann vielleicht manchmal fest, wie anstrengend und im Grunde sinnlos das irgendwie scheint. Wir erkennen immer unzählige Aspekte und Möglichkeiten, die eintreten könnten, analysieren und bewerten sie in Rekordtempo, um dann bange einen (hoffentlich nicht allzu gefährlichen) Weg zu wählen. Und enthalten uns so dem Leben mit seinen Unwägbarkeiten und Potenzialen, die sich nicht voll entfalten können. Wer seinen Radius so klein wählt, dass er sich nur um sich selbst drehen kann, wird keinen neuen Kontinent entdecken. Unser Nachdenken wird zudem nie reichen, um diese Welt objektiv (im Gurdjieffschen Sinne) verstehen zu können.

Ich beneide Menschen, die einfach vertrauen können. Ich kann es nicht. Denn Vertrauen setzt bei mir voraus, dass die Lage voll unter (meiner) Kontrolle ist. Das aber krieg ich nur hin, wenn ich meinen Radius einschränke. Für alles Größere bräuchte ich mehr Vertrauen. Ich glaube fest daran, dass sich dieses Vertrauen nur in der Verbundenheit mit einem Gegenüber für mich erfahren lässt. Das ist gleichzeitig die Begegnung mit dem Göttlichen, mit dem Allsein. Das ist der Sehnsuchtsort. Dort müsste ich dann auch nichts mehr wissen. Warum auch?

Wenn ich wirklich spürte, dass ich ein Teil von einer größeren Einheit und einem Plan bin, dann könnte ich vermutlich besser loslassen. Ich hätte weniger Grund, meinen Denkapparat anzuschmeißen, um darin Leben zu antizipieren und zu simulieren. Mich vor dem Chaos und dem Gefühl des Alleinseins zu schützen. Doch Begegnung und Verbundenheit geschehen für Menschen unseres Musters nicht einfach so. Woher kommt unser starker Widerstand, uns auf Beziehung einzulassen? Warum passiert das bloß? Das ist so kontraindiziert wie nur irgendwas. So als würde mich jemand an einem heißen Sommertag einladen, ein Eis essen zu gehen und ich entscheide mich für einen heißen Tee zu Hause an meinem Schreibtisch in meiner völlig überhitzten Dachwohnung.

Ein nicht unerheblicher Punkt ist für mich, dass ich glaube, dass man FÜNFen weniger etwas vormachen kann als anderen Mustern. Wir riechen Fake-Verbundenheit 10 Meilen gegen den Wind. In unserer Welt vermuten wir hinter vielen Angeboten nur ein Zerrbild aus der Werbung. So wie ein Joghurt-Spot, der einem eine intakte Natur, mir ihr im Einklang lebende Bauern, glückliche Tiere und frisch gepflückte Erdbeeren kredenzt. Wir aber sehen hinter der Fassade direkt Hochleistungskühe, überdüngte Felder und künstliche Aromen. Das stößt uns ab, bevor wir es überhaupt probiert haben. Wir fürchten zudem den hohen Einsatz und das Risiko, uns voll in eine Beziehung hineinzugeben und dann ... eventuell wieder alleine zu sein. Die (unbewusste) Angst vor dem Misslingen. Sich zu zeigen, aber nicht gesehen zu werden. Die Beziehung wieder entzogen zu bekommen. Angst fressen Beziehung auf. Wann immer (oft vermutlich unbewusst) diese Angst vor Verlust oder Verletzung aufkommt, folgt der instinktive (oft präventive) Rückzug. Vom Gegenüber weg, hinein in die (vermeintliche) Sicherheit der eigenen Kopfwelt und (vermeintlichen) Unabhängigkeit. Exil in der überhitzten Dachwohnung.

Unser Grundrauschen im Denkzentrum erschwert uns zudem, unser Gegenüber überhaupt „hören" zu können. Unser Kopf ist eigentlich immer beschäftigt. Hinzukommt, dass wir uns aus Überempfindlichkeit abstumpfen. So entsteht die nächste Barriere zur Begegnung. Wir können aufrichtige Beziehungsangebote oft gar nicht wahrnehmen. Statt eines Winks mit dem Zaunpfahl müsste man uns schon mit selbigem einen über den Kopf zimmern, damit wir etwas merken.

Vertrauen zu können, ist mein absoluter Sehnsuchtsort. Und ich ahne, dass er irgendwo dort draußen in der Begegnung und dem Verbundensein liegt. Vermutlich ist er immer um mich herum, aber ich sehe ihn nicht. Wie den Wald vor lauter Bäumen. Und ich spüre dieses Vertrauen einfach nicht. Denn dazu müsste der Kopf schweigen. Das tut er aber eigentlich nie und ich glaube, er kann dies eigentlich nur in Momenten der (echten) Begegnung und in dem dort wartenden Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Dort, wo ich die Kontrolle aufgeben darf. Dort, wo Verbundenheit alle Abwehrmechanismen deaktiviert und die Schutzschirme herunterfahren.

Ich finde es ein interessantes Denkspiel, mir vorzustellen, man wäre seines zentralen Identitätsknüpfungsinstruments beraubt worden. Wer bin ich dann (noch), wenn ich nicht mehr intellektuell brillieren könnte? Was bin ich noch wert, wenn ich plötzlich in einer Art intellektuellem Rollstuhl sitzen würde? Diese Vorstellung macht einerseits natürlich Angst, andererseits aber fühlt sie sich fast wie eine Erleichterung an, dieses anstrengende Programm dann nicht mehr abspulen zu müssen Tag für Tag. Und ich merke beim Darüber-Nachdenken, dass ich sicher bin, dass es einige Menschen gäbe, für die ich weiterhin liebenswert wäre, die sich nicht abwenden würden, weil ich nicht mehr ein interessanter Gesprächspartner wäre. Diese Menschen kommen mir gerade vor Augen und ich spüre, welche Verbundenheit daraus resultiert. Tatsächlich eine Idee davon, gar nicht alleine zu sein, was immer auch passiert. Und den Gedanken, dass es vielleicht einige Menschen mehr sein könnten, als mir mein Muster einflüstert.

Und dann wären da noch die Emotionen. Emotionen, vor denen ich mich lieber schütze, weil ich ihre Intensität fürchte. Die Angst, nicht verbunden zu sein, ist vermutlich eine der Ur-Ängste, die wir als Menschen in uns tragen. Uns instinktiv mitgegeben, weil wir als Babys schutzlos der Welt ausgeliefert sind und unser Überleben nur sichern können, indem wir uns an diejenigen binden, die sich um uns kümmern können. Und auch wenn wir groß geworden sind, brauchen wir dieses Beziehungsdorf. Aus der Herde oder dem Rudel verstoßen zu werden, ist die Höchststrafe. Möglicherweise spüren Menschen des Musters FÜNF dies besonders intensiv – wenn auch nicht unbedingt bewusst. Im Gegenteil: Ihr Muster flüstert ihnen sogar ein, dass es besser und sicherer sei, alleine klar zu kommen.

Hinzukommt m.E. noch ein weiteres Problem: unsere mangelnde Speicherfähigkeit von verbindenden Erfahrungen. Wir können sie nicht bewahren, sie sind dann wieder ganz weit weg. Das Misstrauen schleicht sich wieder ein, kappt die Verbindung und sagt, Du bist doch alleine. Es war nur eine Illusion. Diesen Schmerz können wir umgehen, indem wir präventiv Beziehungen vermeiden.

Es ist wirklich paradox: Wir haben vermutlich den größten Bedarf an Bindung und Beziehung und gehen ihnen sorgsamst aus dem Weg. Und reden uns das dann auch noch als Unabhängigkeit schön. Ich glaube, erst wenn das Herz weich wird, können wir diese Tragik und unsere darin liegende Traurigkeit erfahren. Dann kann Transformation geschehen. Dafür müssten wir aber unseren Panzer ablegen. Und das wiederum passiert nur in der echten Begegnung.

Das Universum sorgt für mich. Jemand hält schützend seine Hand über mich. Das sind Sätze, mit denen ich immer meine Schwierigkeiten habe. Etwas in mir ahnt abstrakt, dass sie stimmen. Aber nicht so banal, wie es für mich erst einmal klingt: Wie soll jemand, der wirklich schwerstes Schicksal erfährt, ernsthaft glauben, eine göttliche Kraft würde schützend seine Hand über ihn halten und zu dem Ergebnis kommen, das Universum sorge gut für ihn (und seine Familie). Ich kann mir nicht vorstellen, dass das so eng zu verstehen ist, dass Gott schon aufpassen wird, dass mir nichts Schlimmes passiert. Es passiert ja jeden Tag so viel unvorstellbar Schlimmes, dass ich das komisch fände, zu glauben ich wäre jetzt so wichtig für Gott, dass er mir einen Extra-Schutzengel abstellt (den er eventuell sogar woanders abziehen müsste). Also muss es anders gemeint sein, nämlich dass ich Teil von etwas Größerem bin, für das „gesorgt" wird. Und dass es Illusion wäre zu glauben, ich hätte tatsächlich einen Zugriff drauf, was mir widerfährt. Und dass ich das, was passiert, mit meinem Gehirn verstehen könnte.

Ich glaube, das einfache Denkzentrum ist am weitesten weg von dieser Wahrheit. Die anderen Zentren sind da vermutlich näher dran, da sie nicht darauf angewiesen sind, es kognitiv verstehen zu müssen und damit Tag für Tag zu scheitern. Wozu ein höheres Denkzentrum in der Lage sein mag, kann ich nicht erahnen. Klar, als Mensch des Musters FÜNF ist dieses auch eine Art Sehnsuchtsort, an dem endlich befriedigende Antworten zu finden sind. Aber dieses höhere Zentrum ist von meinem aktuellen Bewusstseinsgrad aus nicht zugänglich. Und um dorthin zu kommen, würde m.E. voraussetzen, dass man erst einmal seine anderen Zentren ins Gleichgewicht bekommt.

Wann und wie kann dennoch Begegnung geschehen? Klar ist, etwas in uns will es immer wieder verhindern. Das ist der Automatismus, der so normal ist, dass wir es nicht mal wahrnehmen in der Regel, wenn es passiert. Daran können wir arbeiten: unsere Mechanismen besser zu verstehen, aufmerksamer zu sein, wenn es wieder passiert und uns bewusst zumindest manchmal anders zu verhalten.

Einfacher wird es für uns zudem, wenn es eine Einladung gibt. Unser Name muss aber bitte eindeutig auf dem Couvert stehen, damit wir sicher sein können, dass tatsächlich wir gemeint sind. Und dann sollte es bitte auch wirklich ernst gemeint sein. Auf Pseudo-Beziehungsangebote verzichte ich weiterhin gerne. Ich glaube, dass (mir) ein Rahmen oder eine Gemeinschaft hilft, wo man einander vertrauensvoll begegnen kann. Man spürt dann die Authentizität seines Gegenübers, seine gute Absicht. Ich glaube, dass in unserer Authentizität etwas liegt, das förmlich ein Gegenüber sucht, um sich auszudrücken. Man muss aber eben auch gefunden werden wollen. Ich erinnere mich noch sehr genau an Wilfrieds instinktives Abchecken bei der Mustersuche, ob er bei jemandem ein Beziehungsangebot spürt oder nicht. Das wäre mein Wunsch, dieses Angebot öfter selber ausstrahlen zu können. Dass der Geist es hinterher wieder umdreht und alles in Frage stellt, geschenkt – das ist bei uns wohl so. Dennoch sind diese Verbindungsmomente essenziell wichtig.

Und dann wäre da noch die Sache mit der Gnade, die dazu gehört. Es passiert oder es passiert eben nicht. Ich glaube, dass ich echte Transformation nur begrenzt in der Hand habe. Aber ich kann mich anstrengen, meinen Teil dazu beitragen. Auf einem aufgelockerten Boden ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass etwas blühen kann. Vielleicht ist dies sogar mehr ein Zustand als eine willentliche Handlung.

Zum Schluss noch eine Analogie, die mir gerade einfällt: Vielleicht kann man sich Beziehungen ein wenig wie Faszien vorstellen. Diese sind das Bindegewebe im Körper, sie umhüllen, verbinden, vernetzen und setzen den Körper unter Spannung. Viele Jahrhunderte hat man sie weitgehend ignoriert in der Medizin. Tatsächlich aber ist über das Fasziengewebe (fast) alles im Körper miteinander verbunden. Tut einem die Schulter weh, kann die Ursache deshalb ganz woanders liegen. Möglicherweise ist die Bedeutung unseres „Beziehungsgewebes" für unsere seelische und körperliche Gesundheit ähnlich unterschätzt und wir sollten unser Augenmerk mehr auf unsere Verbundenheit legen, als auf die Symptome, die uns Schmerzen bereiten.

Markus

.
  • .
  • .